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Nürnberg: ein heutiges Foto der Zeppelinhaupttribüne, von der Hitler seine Reden hielt.

Vergessen, aber nicht vergeben

Wie kommt man mit einer so schweren Last wie der des Nationalsozialismus oder der Kollaboration klar? Die Vergangenheit vergessen machen, ohne sie zu verleugnen: Das versuchen die Städte Nürnberg und Vichy; jede auf ihre Art und Weise.

Veröffentlicht am 25 August 2010 um 14:32
Nürnberg: ein heutiges Foto der Zeppelinhaupttribüne, von der Hitler seine Reden hielt.

Rar sind die Orte in Deutschland, an denen man die Ästhetik der nationalsozialistischen Ideologie noch so schön "bewundern" kann wie in Nürnberg: Im Süden der Stadt befinden sich noch immer die Mauern, in denen 1933 und 1938 die Kongresse der nationalsozialistischen Partei stattgefunden haben. Die Kriegsjahre haben die Fertigstellung des Reichsparteitagsgeländes verhindert. Dagegen wurden die Gebäude, welche die Bombardierungen und die Abrisse überlebt haben, 1973 als schillerndes Beispiel der kolossalen Architektur des Regimes zum nationalen Kulturgut erklärt. Doch trotz der in den vergangenen Jahrzehnten hin und wieder durchgeführten Renovierungsarbeiten sind einige der Bauten dem Zerfall nahe.

Wie es der Sprecher des Nürnberger Stadtverwaltung, Siegfried Zelnhefer, erklärt, greift dieser Verfall vor allem die Grundstruktur des Komplexes an. Nach ersten Schätzungen würden die Bauarbeiten etwa zehn Jahre andauern und ca. 70 Millionen Euro kosten. Restaurieren oder nicht? Das ist hier die Frage: Ist es legitim in den Erhalt dieser Symbole zu investieren? Während die einen darin ein gefährliches Unterfangen sehen, welches nur so vor Widersprüchen strotzt, betonen zahlreiche Historiker den dokumentarisch einzigartigen Wert dieser Architektur.

"Historische Verantwortung"

"Diese Bauwerke veranschaulichen das ehrgeizige Machtstreben dieses kriminellen Regimes, welches in einen Weltkrieg mündete, dem 55 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind", betont der Sprecher der Stadt. "Zudem stehen sie für den rassistischen Wahnsinn, der seinen Ausdruck im Mord an sechs Millionen Juden fand." Trotz seiner tausendjährigen, von Licht- und Schattenseiten geprägten Geschichte ist "der Name Nürnbergs – wie der anderer deutschen Städte – seit einem halben Jahrhundert fest mit der Zeit des Nationalsozialismus und seinen Verbrechen verbunden", erklärt Siegfried Zelnhefer. "Und auch wenn sich unsere Vergangenheit nicht darauf beschränkt, so ist sich die Stadt ihrer Rolle während der Nazi-Diktatur – und ihrer damit verbundenen historischen Verantwortung durchaus bewusst."

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So bemühen sich die Nürnberger Behörden ganz besonders darum, für den Frieden und die Achtung der Menschenrechte einzutreten. Sie organisieren eine ganze Reihe von Veranstaltungen und unterstützen verschiedenste Initiativen. Die letzte – die sich noch immer in der Anlaufphase befindet – ist an einen anderen symbolträchtigen Ort der Stadt gebunden: Der Gerichtsaal 600 des Justizpalastes, in welchem die Nürnberger Prozesse stattgefunden haben. Jährlich besuchen etwa 40.000 Besucher diesen Saal, der im Herbst um ein Gedenk-Museum erweitert wird. Zudem bereitet man die Bewerbungsunterlagen vor, um den Saal als Wiege des internationalen Strafrechts auf die Liste des UNESCO-Welterbes setzen zu lassen. "Hier wurde Geschichte geschrieben", erinnert Siegfried Zelnhefer eindringlich. "Zum ersten Mal haben sich Staaten mit unterschiedlichen Regierungsformen und verschiedenen Rechtsauffassungen zusammengesetzt, um einen gemeinsamen Feind vor Gericht zu stellen."

Das französische Vichy versucht seinerseits den kulturellen und künstlerischen Reichtum zu betonen, um seiner Erinnerung und seines Status‘ als Hauptstadt des kollaborierenden Frankreichs zu entkommen. In der etwa 400 km von Paris entfernten Stadt erfreut sich ein Madrider Touristenpärchen gegenüber der Nummer 3 des Joseph-Aletti-Platzes gerade seines ersten Urlaubstages. Francisco und Sofía sind begeistert: "Wir sind gekommen, um diese für ihre Thermalwasser berühmte Stadt zu genießen."

Was die beiden Spanier ganz nebenbei entdecken: Für die Mehrheit der Franzosen ist jede Straßenecke hier von der Last einer dunklen Vergangenheit gezeichnet. Eine unausweichliche Last für ein Land, das versucht, zu vergessen, ohne dass dies jemals gelingt. Die Stadt Vichy hat sich dafür entschieden, nach vorn zu schauen, ohne dabei die Erinnerung auszulöschen. Von 1940 bis 1944 war das aristokratische Vichy die Hauptstadt des französischen Staates, dessen Oberhaupt– der unter der Vormundschaft des nationalsozialistischen Besetzers stehende – Marschall Philippe Pétain war. Die Zone des Freien Frankreichs war in den Händen der französischen Widerstandsbewegung. Damals zählte die Stadt 35.000 Einwohner (heute sind es etwa 100.000), sowie 400 Villen und vornehme Privathäuser.

"Vichy hat die Totenglocken der III. Republik eingeläutet. Aufgrund ihrer geräumigen Häuser und ihrer leistungsfähigen Telefonzentrale erwählten Pétain und seine Minister Vichy – und nicht Paris – zur Hauptstadt", erklärt der Schriftsteller Sylvain Beltran. In den Gebäuden in Vichy wurden die Dienstabteilungen der Regierung Pétains untergebracht.

"Wir sind Vichyner nicht Vichyisten!"

Aber gehen wir wieder zur Nummer 3 des Joseph-Aletti-Platzes. Es handelt sich um den nur wenige Meter von der Oper entfernten Eingang zum Aletti-Platz. Vor 70 Jahren nannte er sich Thermalhotel und beherbergte die Büros des Kriegsministeriums. Ein anderes, von den Militärs genutztes Gebäude: Das Parkhotel, welches später in Appartements umgebaut wurde. In der dritten Etage befand sich der Wohnsitz Marschall Pétains. Während der Ministerräte, die im Parkhotel organisiert wurden, entschied man die massiven Deportationen der Juden aus dem besetzten Frankreich in die nationalsozialistischen Vernichtungslager. 75.721 Juden wurden deportiert, darunter 11.400 Kinder. Endstation: Vernichtungslager. Nur 3000 sind aus ihnen zurückgekehrt.

"Wie sollte man vergessen, dass in Vichy die Entscheidung getroffen wurde, tausende Menschen in den Tod zu schicken, weil Pétain sich für die Kollaboration mit den Nationalsozialisten entschieden hatte, um für Frankreich Schlimmeres zu verhindern?", fragt sich Sylvain Beltran. Heute geht es darum, die Vergangenheit, die sich nicht auslöschen lässt, zu akzeptieren. Daher sollte man sich für den Weg der kulturellen Bereicherung entscheiden. Das zumindest ist die Meinung des Schriftstellers, der seit 2001 am Aletti gerade deshalb politische Vorträge organisiert, der er "Öffentliche Unterhaltungen" („Les entretiens publics“) nennt. Bereits teilgenommen haben daran der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen – Boutros Boutros-Ghali, sowie die Stellvertreterin der Palästinensischen Autonomiebehörde in der Europäischen Union – Leila Shahid, aber auch der Oberrabbiner von Frankreich – Gilles Bernheim.

"Ich möchte den Beweis dafür liefern, dass Vichy nicht ausschließlich für die Zeit Pétains steht, sondern dass es heute hier ein sehr aktives kulturelles Leben gibt", erklärt der Schriftsteller. Außer einer Gedenktafel, die hier und da an diese schreckliche Seite der französischen Geschichte erinnert, bemüht sich die Stadt seit Jahren darum, sein Hotelangebot in den Vordergrund zu stellen und sich als Tourismus- und Eventorganisator durchzusetzen. Vichy hat die feste Absicht, seine Vergangenheit zu bezwingen, und interessiert sich vor allem für seine Gegenwart. Selbst seine Bewohner kämpfen gegen die Verwechslung an: "Wir sind Vichyner nicht Vichyisten!" („Nous sommes vichyssois, pas vichystes!“), betont der für die Stadt arbeitende Jérôme. (j-h)

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