Lille (Nordfrankreich), 20. August 2010, während der Räumung eines Roma-Lagers

Grenzenlose Heuchelei

Frankreich schiebt Hunderte von Roma aus "humanitären Gründen" nach Rumänien und Bulgarien ab. Dies sei demagogisch und zynisch, meint der bulgarische Journalist Svetoslav Terziev. Und vor allen werde damit keineswegs das Integrationsproblem der Roma gelöst.

Veröffentlicht am 26 August 2010 um 15:09
Lille (Nordfrankreich), 20. August 2010, während der Räumung eines Roma-Lagers

In den kommenden drei Monaten will Frankreich die Hälfte aller illegalen Roma-Lager im Land geräumt und deren Bewohner nach Rumänien und Bulgarien abgeschoben haben. Aus Solidarität zwischen frankophonen Ländern- Rumänien und Bulgarien gehören der Internationalen Organisation der Frankophonie an- haben sich Bukarest und Sofia bereit erklärt, die in Frankreich unerwünschten Roma aufzunehmen. Sie haben sogar Polizeikräfte nach Frankreich geschickt, um den dortigen Kollegen Hilfestellung zu geben. Die Europäische Kommission hat zu dieser Operation keinerlei Einwände erhoben. Mit einem Wort, alles steht bereit für die größte offizielle Roma-Deportation seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Ergebnis? Die rumänischen und bulgarischen Roma kehren heim, bleiben kurze Zeit bei ihren Verwandten und zurück geht’s nach Frankreich. Warum? Weil sie den Weg kennen, und weil sie haargenau wissen, dass dort die Lebensbedingungen besser sind als in den zwei ärmsten Ländern der Europäischen Union.

Roma sind traditionell Nomaden und passen sich nur schwer unserem Lebensstil an. Sehr wenige von ihnen haben sich an ein sesshaftes Dasein gewöhnt. Die anderen reisen weiter, wie schon ihre indischen Vorfahren vor über fünfhundert Jahren. Eine Reise, deren Ende nicht in Sicht ist. Dass es so viele Roma im Balkan gibt hat zwei Gründe: Das Osmanische Reich hat ihnen den Zugang gewährt, und der Kommunismus mit dem Eisernen Vorhang eine Ausbreitung gen Westen verhindert. Hinzu kommen die endlosen Verfolgungen in den westlichen Ländern — darunter auch Frankreich — seit dem 17. Jahrhundert, mit der Nazizeit als Höhepunkt.

Es ist unwürdig zu behaupten, dass die Segregation in Bulgarien und Rumänien die Roma zur Flucht gen Westen gezwungen hätte, waren doch beide Länder historisch gesehen für die Roma ein Refugium vor der Ablehnung im Rest Europas. Genauso wie man nicht behaupten kann, dass Bulgarien und Rumänien absichtlich arm bleiben würden, um ihre Roma loszuwerden. Mit Heuchelei wird Europa das Problem nicht lösen. Man drapiert sich mit den Menschrechten und stellt Bukarest und Sofia an den Pranger mit der Behauptung, beide Länder würden nicht genug für die Integration der Roma in ihren Ländern tun. Auf der anderen Seite sagen die italienischen und französischen Behörden, dass die Roma nicht aus Intoleranz abgeschoben würden, sondern weil es Ausländer seien, die nationales Recht missachten.

Eine Lösung, die keine ist.

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Ganz offensichtlich sucht man für die Roma-Frage eine Lösung durch Polizeigewalt. Man will die Roma in Ghetto-Länder abschieben, die selbst keinerlei Mittel haben, sie zurückzuhalten. Das Protokoll N° 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention unterstreicht eindeutig, dass jeder EU-Bürger uneingeschränkt in alle Länder der Union reisen darf. Ja, Bulgarien und Rumänien könnten den Roma die Ausreise verweigern, aber dazu müssten für die reisewilligen Bürger wieder Gesetze und "Ausreise-Visa" aus Zeiten der kommunistischen Diktatur aktiviert werden.

Frankreich hat einen Lösungsansatz. Das "fahrende Volk" wird als solches anerkannt und es gibt eine landesweite Regelung. Doch hat das Land den Mut, diese auch auf europäischer Ebene durchzusetzen? In Frankreich müssen alle Gemeinden von mehr als 5000 Einwohnern dem fahrenden Volk Stellplätze mit Wasser- und Stromanschluss zu Verfügung stellen. Ein zivilisiertes Nomadentum, das eher an Camping erinnert. Anstatt Ghettos in Rumänien und Bulgarien zu fördern, täte Europa gut daran, überall innerhalb der Union Stellplätze für jene Menschen zu schaffen, die es vorziehen, gemäß ihrer Tradition einen nomadischen Lebensstil beizubehalten. Die Roma gehören seit Jahrhunderten zu Europa und es ist ausgeschlossen, dass sie irgendwann nach Asien zurückkehren werden. (j-s)

Comic

Reise ins Herz der Roma

Der Welterfolg von Marjane Satrapi's Persepolis zeigt, dass Comics — oder Graphic Novels — außerordentlich wirksame Mittel des Kulturaustauschs sein können. Die jüngst erschienene tschechische Comic-Trilogie O přibjehihat denselben Anspruch, schreibt Lidové noviny.

Die Autoren, die Roma-Expertin Máša Bořkovcová, der Anthropologe Markéta Hajská und der Comic-Zeichner Vojtěch Mašek erzählen die Geschichten von drei Roma, zwei davon aus Tschechien und einer aus der Slowakei. Ferko heißt die älteste der drei Figuren. Ein netter Kerl, und Fan der Geschichten des Barons von Münchhausen. Die Geschichte der zweiten Figur, Keva, fußt auf seinen Kindheitserinnerungen während seiner zahlreicher Aufenthalte in Erziehungsheimen. Geschichten, die die Gesellschaft lieber vergessen würde. Die dritte Figur, Albína, ist 45 Jahre alt. Sie musste ihrem Mann ins Roma-Lager des Dorfes Hermovce folgen und ist Mutter von sieben Kindern. Eines Tages verliebt sie sich in den freiwilligen Helfer Karel, der zu den Hilfstrupps nach den Überschwemmungen von 1998 gehört. Weit entfernt von Zigeunerromantik und politischer Korrektheit erzählt O přibjehi ungeschminkt von Gewalt, von Ausbeutung und Drogenhandel, die in dieser Gemeinschaft auch vorhanden sind.

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