Nach Zusammenstößen mit Einwohnern wartenausländische Saisonarbeiter auf den Bus, der sie aus Rosarno evakuieren soll. 9. Januar 2010.

Keine Erlösung für Rosarnos „Sklaven“

Im Dezember 2009 gingen afrikanische Saisonarbeiter auf den Orangenplantagen in Kalabrien gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen auf die Straße. Eine Welle der Empörung lief durch Italien. Aber geändert hat sich wenig. Die staatlichen Hilfsaktionen sind fehlgeschlagen, und die Migranten werden weiter von der Mafia ausgebeutet.

Veröffentlicht am 10 Januar 2013 um 12:28
Nach Zusammenstößen mit Einwohnern wartenausländische Saisonarbeiter auf den Bus, der sie aus Rosarno evakuieren soll. 9. Januar 2010.

Wer glaubt, dass in der kalabrischen Kleinstadt Rosarno drei Jahre nach der Revolte der Migranten, den Krawallen, der Gegendemonstrationen der Einwohner, der Menschenjagd und schließlich der Ausweisung der Afrikaner alles so ist wie früher, irrt gewaltig. Es ist viel schlimmer.

Rosarno zählt wieder 2.000 afrikanische Erntehelfer, wie damals: Sie kommen im Herbst und reisen im Frühling wieder ab, nachdem sie für 25 Euro pro Tag Zitrusfrüchte geerntet haben, auch wenn die Arbeitgeber heute den Akkordlohn bevorzugen, der die Produktivität erhöht: 1 Euro für eine Kiste Mandarinen und 0,50 Euro für eine Kiste Orangen. Eine Kiste wiegt 18 bis 20 Kilo.

In der Hochsaison arbeiten sie je nach Bedarf drei bis vier Tage pro Woche und zahlen dem Vorarbeiter, der sie im Morgengrauen in den Minibus lädt, 3 Euro. An den Tagen, an denen es keine Arbeit gibt, fahren sie mit dem Rad durch die Gegend, kaufen bei Discountern ein, kochen Reis und Hühnerflügel in verrosteten Kanistern, lassen sich mit Bier volllaufen und streiten sich.

Vergammelten Matratzen. Der Geruch ist unbeschreiblich

Die beiden gigantischen Schlafsäle in den Ruinen der stillgelegten Fabriken gibt es nicht mehr. Einer wurde von den Behörden geschlossen, der andere abgerissen. Es musste aufgeräumt werden, in jeder Hinsicht. Aber im neuen Elendsviertel zwischen Rosarno und San Ferdinando herrschen, wenn das überhaupt noch möglich ist, noch entsetzlichere Zustände. Die Zementskelette und Eisenwände sind Eternitplatten aus einem der vielen Industriefriedhöfe Kalabriens gewichen. Die Dächer der notdürftigen Unterkünfte sind heute aus Zellophan, Pappe oder Kunststoff.

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Die Bettlager ruhen auf rund 20 cm hohen Erdhügeln. Beim ersten stärkeren Regenguss versinken sie im Schlamm. Die Toiletten sind nicht zu verfehlen: zwei ca. 1 Meter breite und 40 Zentimeter tiefe Gruben unter freiem Himmel und ohne jeglichen Sichtschutz. Im größeren, rund 50 Quadratmeter großen Zelt schlafen nicht weniger als hundert Menschen auf vergammelten Matratzen und Liegen. Der Geruch ist unbeschreiblich. Es gibt weder fließendes Wasser, noch Abwasserkanäle, noch Strom, nur Müllberge, die als Vorhang dienen.

„Barbarisch, beschämend, eklig“, empört sich Domenico Madafferi, Bürgermeister von San Ferdinando, der angesichts der „praktisch inexistenten“ Hygiene, der „Gefährdung der Gesundheit“, der „baufälligen Hütten“ und der „illegalen Wohnungen ohne jeglichen Komfort“, die sich in „Infektionsherde“ verwandeln könnten, eigenhändig einen Räumungsbefehl verfasst hat. „Um Region und Regierung zu zwingen, endlich zu handeln, nach all den erfolglosen Besprechungen, Appellen und Schreiben“, erklärt er. „Nichts hat sich geändert, alles nur leere Versprechen.“

55.000 für eine Zeltstadt

Dabei haben die Behörden erst vor einem Jahr ein beispielhaftes Lager mit 280 Plätzen eröffnet: geräumige Viermannzelte, Ölöfen, Satellitenfernsehen, Camping-Toiletten, beleuchtete Wege, Müllabfuhr, Speisesaal mit Küche und ärztliche Betreuung. Eine kleine Schweiz in der Ebene von Gioia Tauro.

Die Region spendierte 55.000 Euro für die Verwaltung, die Provinz übernahm die Stromrechnung, Elisabetta Tripodi, Bürgermeisterin von Rosarno, und Domenico Madafferi, Bürgermeister von San Ferdinando, sollten den Rest aufbringen. Katholische, evangelische und konfessionslose Freiwilligenverbände boten den Migranten dank der Spenden Tausender von Menschen Unterstützung, Lebensmittel und Decken an.

Die Zeltstadt entstand neben den im Februar 2011 errichteten Schnellbaucontainern für 120 Tagelöhner: Fertigmodule für sechs Personen mit Küche und Bad. So konnten die letzten Elendsquartiere abgerissen werden. Außerdem kosten Verköstigung und Unterkunft im Modell Rosarno für einen Migranten pro Tag nur 2 Euro, während der Zivilschutz im Durchschnitt 45 Euro für diese Leistungen ausgab.

Vergeblicher Hilferuf des Bürgermeisters

Obwohl es immer noch nicht genügend Plätze gab (400, also nur ein Drittel der notwendigen Anzahl), schien es doch, als ob in diesem Gebiet, in dem ständig der Ausnahmezustand herrscht (vor einiger Zeit wurden die Gemeinderäte der drei Städte wegen ihrer Beziehungen zur Mafia gleichzeitig aufgelöst) die Not wie durch ein Wunder vorerst gebannt worden war. Doch hat sich leider schnell gezeigt, dass die Verschnaufpause nur von kurzer Dauer war.

Im Juni 2012 hatte die Region kein Geld mehr, die Zeltstadt wurde bis zur kommenden Erntesaison geschlossen. Im August wandt sich der Bürgermeister an die Region und die Regierung mit der Aufforderung, das Lager rechtzeitig wieder in Betrieb zu nehmen, damit ein Chaos vermieden wird. Seine Bitte fiel auf taube Ohren. Ende Oktober, als die Mandarinenernte begann, wurde die stillgelegte Zeltstadt von den Migranten überflutet.

In den Viermannzelten fanden zuerst sechs Erntearbeiter Unterschlupf, aber das reichte bald nicht mehr. Der Bürgermeister verlangte Hilfe, er hatte weder die nötigen Mittel noch die Strukturen und Mitarbeiter, um der Lage Herr zu werden. „Region und Regierung reagierten nicht, der Minister für Internationale Zusammenarbeit Andrea Riccardi antwortete nicht, nur die Präsidentschaft der Republik lieferte uns Decken, die aber nicht genügen“, so der Bürgermeister betrübt. In wenigen Wochen wurde auch der Speisesaal in ein riesiges Bettlager umfunktioniert. Dann gab es wirklich keinen Platz mehr und die neu Angekommenen begannen, das Elendsviertel neben der ursprünglichen Migrantensiedlung wieder aufzubauen.

Ohne Wartung halten die Abwasserkanäle der Bevölkerung der Zeltstadt, die sich vervierfacht hat, nicht stand, die Dusch- und Toilettenmodule verwandeln sich in unbenutzbare Kloaken, die Küche wurde geschlossen und die Mülltonnen gehen über.

50.00 bis 70.000 Euro würden genügen, um das Lager wieder instand zu setzen und die Wartung Verwaltung bis zum Frühjahr sicherzustellen. Nur 0,000006 Prozent des italienischen Staatshaushalts und der in den letzten drei Jahren gegebenen Versprechen. Aber sogar das ist zu viel für Rosarno.

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