Die kopflose EU

Die EU durchlebt derzeit eine Wirtschaftskrise sowie politische und soziale Schwierigkeiten, doch es scheint ihren führenden Köpfen an Durchsetzungswillen zu fehlen, um dem abzuhelfen. Der Politologe Rob de Wijk fordert sie dazu auf, die Tendenz umzukehren, um den Niedergang des Kontinents zu bremsen.

Veröffentlicht am 30 August 2010 um 16:46

Europas Einfluss nimmt ab. Dies war insbesondere während des Klimagipfels in Kopenhagen festzustellen, als dem europäischen Wunsch, bindende Abkommen über die Reduzierung der Treibhausgase zu schließen, nicht stattgegeben wurde. Während der Finanzkrise wurden die Probleme dann noch deutlicher.

Der Entschluss, den bankrottgefährdeten Ländern Unterstützung zu gewähren, wurde zu spät getroffen. Und dann musste der Internationale Währungsfonds (IWF) in Anspruch genommen werden, um die Entscheidung umzusetzen. Ebenso war es bei den Maßnahmen zur Einführung einer wirtschaftlichen Kontrolle, die ebenfalls zu spät eingesetzt wurden. Dabei ist eine echte politische Union dringend geboten, wenn Länder wie Griechenland zu einem korrekten Verhalten gezwungen werden sollen.

Mangel an nationaler Tatkraft

Europas Mangel an Dynamik ergibt sich aus der mangelnden Tatkraft innerhalb der einzelnen Mitgliedsstaaten. In Ungarn zum Beispiel führte dies zu einer politischen Krise, die alles, wofür Europa steht, unterminiert. Mitten in der Finanzkrise erlangte die Rechtspartei Fidesz Anfang 2010 eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament, wodurch sie die Verfassung nach Belieben ändern kann. Dies ebnet den Weg für eine Diktatur, vor allem weil so ein Wahlergebnis eine ablehnende Haltung gegenüber der Politik im allgemeinen ausdrückt. Das lässt viel Raum für extremistische Vorstellungen, wie die der rechtsextremen Partei Jobbik, die jegliche Verantwortung für die aktuellen Schwierigkeiten auf die Juden und Zigeuner schiebt.

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Diese Krise ist die extreme Variante eines politischen Unbehagens, das in fast allen EU-Mitgliedsstaaten zu verspüren ist und einer konstruktiven Politik im Weg steht.

Seltsamerweise scheint sich Europa mit diesem Niedergang abfinden zu wollen. Erklärbar ist das durch den Erfolg des europäischen Integrationsprozesses an sich. Letzterer brachte Wohlstand und Sicherheit, doch er führte auch dazu, dass die Menschen ihr Wohlergehen für selbstverständlich halten. Alles, was das so geschaffene Paradies bedroht, führt zu Unzufriedenheit, zur Forderung nach "weniger Europa" und zur Abstemplung von Sündenböcken: Juden, Zigeuner, Muslime oder "die Reichen".

Dies und die mangelnde politische Dynamik der einzelnen Länder hindern die Mitgliedsstaaten daran, wesentliche Versprechen, wie die Umsetzung der Lissabon-Strategie von 2000, einzuhalten. Europa ist nicht die Wirtschaftsmacht geworden, die auf dem weltweit konkurrenzfähigsten und dynamischsten Verständnis basiert. Auch der neue Plan "Europa 2020" wird dazu voraussichtlich nicht führen.

Keine echte Reflexion

Eine andere Erklärung für den Niedergang ist das extreme Tempo des Informationsflusses: Die Politiker rennen von einem Medienrummel zum nächsten. Dies verhindert jegliche tiefer greifende Reflexion und mobilisiert nicht genügend Aufmerksamkeit, um dauerhafte Lösungen für die gestellten Problemfragen zu finden. Zudem mangelt es den führenden Politikern oft selbst an Kenntnissen und an Scharfsicht, wodurch es ihnen schwer fällt, die Notwendigkeit umstrittener politischer Maßnahmen zu erklären.

Nehmen wir zum Beispiel die Alterung der Bevölkerung. Heute kommen in der EU auf jeden Ruheständler noch vier Erwerbstätige. Im Jahr 2040 sind es allerdings nur noch zwei. Wir brauchen Einwanderer, um die demografische Alterung auszugleichen. Laut Eurostat wird die EU bis 2050 40 Milllionen Einwanderer aufnehmen. Dadurch werden sich die Auswirkungen der niedrigen Geburtenraten und der erhöhten Lebenserwartung zum Teil ausgleichen lassen. Und dennoch wollen die Politiker die Immigration eindämmen. Dabei wird sich der Niedergang Europas ohne zusätzliche Immigranten noch beschleunigen.

Hoffen wir, dass die Politiker durch die Finanzkrise begreifen, dass sie die negative Tendenz umkehren müssen. Dazu müssen sie sich in Führungsfiguren verwandeln, die in der Lage sind, gemeinsam zu arbeiten und die Innovationskapazität der Europäer zu mobilisieren, damit sich die EU dem Wandel der Zeit anpasst. (p-lm)

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