Bis wohin treibt er das Spiel mit unserer Geduld wohl noch? Muammar al-Gaddafi und Silvio Berlusconi, bei der Feier des zweiten Geburtstages des "Bengasi-Abkommens".

Von Gaddafi für dumm verkauft

In der Außenpolitik müssen die großen Prinzipien manchmal den nationalen Interessen Vorrang lassen. Doch die Provokationen und Erpressungsversuche des libyschen Staatsoberhaupts während seines Rom-Besuchs gehen über das Maß hinaus, das Europa bis heute tolerierte.

Veröffentlicht am 31 August 2010 um 15:03
Bis wohin treibt er das Spiel mit unserer Geduld wohl noch? Muammar al-Gaddafi und Silvio Berlusconi, bei der Feier des zweiten Geburtstages des "Bengasi-Abkommens".

Wirtschaftliche Interessen verlangen nach Pragmatismus. Das gilt auch für die freien Demokratien. Man denke an die Beziehungen der USA mit China, das alles andere als ein Staat der Menschenrechte ist. Oder an die Europäer, die für Erdgas und Öl, bei den autoritären Gebaren der russischen Regierung oder den nicht gerade demokratischen Monarchien des Golfs mal gerne ein Auge zudrücken. Es hat also nichts Skandalöses, wenn die italienische Regierung (wie bereits ihre Vorgänger) einem Diktator wie dem ebenso finsteren wie skurrilen Muammar al-Gaddafi die Hand reicht.

Alles nur Folklore

Und da diese Toleranz Italien auch Vorteile bringt, sollte man sich nicht zu sehr über die Form, die die diese Staatsbesuche annehmen, aufregen. Oder sich über das beleidigt zeigen, was der italienische Regierungschef großzügig mit dem Wort "Folklore" bezeichnet. In diesen harten Zeiten sollte man es mit dem Protokoll nicht zu genau nehmen, um mit jenen Geschäfte machen zu können (es bleibt zu hoffen, dass es dazu überhaupt kommt), die noch über Mittel verfügen.

Auch wenn es vernünftig ist, Gaddafi so würdig wie möglich zu empfangen, hat Berlusconi einen Fehler begangen, indem er es zuließ, dass Grenzen überschritten werden konnten, die bislang als rote Linie galten. Damit hat er dem Ruf des Landes und seiner Glaubwürdigkeit auf internationalem Parkett geschadet. Silvio Berlusconi und die gesamte Regierungsmannschaft mussten am 30. August mit anhören, wie Muammar al-Gaddafi Europa einen Vorschlag unterbreitete, den man kaum anders als mit dem Wort "Erpressungsversuch" bezeichnen kann: Das libysche Staatsoberhaupt forderte von Europa mindestens 5 Milliarden Euro, um der Migrationswelle aus Afrika in die Union Einhalt zu gebieten. Ohne diese Gelder wäre das Land nicht imstande, die Millionen verzweifelter Menschen zurückzuhalten. Und Europa würde zu einem "zweiten Afrika".

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Das Messer am Hals der Europäer

Das libysche Staatsoberhaupt hat zwar weder eine Agenda noch den genauen Inhalt eines solchen Abkommens dargelegt, doch erklärte er, dass er die Unterstützung Italiens genieße. Es schien, als würde die — teuer erkaufte — Befriedung der Beziehungen Lybiens mit Italien ihm die Gelegenheit bieten, den Preis in die Höhe zu treiben. Es reicht, den Europäern das Messer an den Hals zu setzen, indem man ihnen mit illegaler Einwanderung droht. Berlusconi und die Regierung waren weiterhin dabei, als Gaddafi — der beiläufig schmeichelnd erwähnte, dass er einen Sitz Italiens im UN-Sicherheitsrat unterstützen werde — seine Sicht des Mittelmeerraums von sich gab. Man kann seinem "Meer des Friedens" nur zustimmen. Ein Meer, das man vor Umweltverschmutzung schützen müsse: ja, sicher. Ein Meer, wo der Dialog zwischen Nord und Süd hergestellt werden muss: einverstanden. Doch zu guter Letzt: ein Meer, dass vor "imperialistischen Konflikten" bewahrt werden müsse, indem man nur noch Schiffe unter Flagge von Mittelmeer-Anrainerstaaten im zulässt. Anders gesagt: die einzigen "ausländischen" Schiffe wären somit jene der 5. amerikanischen Flotte, die — Zufall oder nicht — just in Italien stationiert ist.

Nur gegen bare Münze

Soll das "Folklore" sein, eine weitere Macke eines Regierungschefs, der schon immer als Original galt? Es steht jedem frei, dies zu denken. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Gaddafi immer noch der alte ist, jener vor der Zeit der Unterzeichnung 2008 des Freundschaftsabkommens mit Italien. Der Gaddafi, der in der Außenpolitik immer schon ein Scharfmacher war, um im Innern des Landes Ruhe zu bewahren. Der Gaddafi, der die Interessen seiner Partner nur gegen bare Münze verteidigt. Und sei es mit einem kaum verschleierten Erpressungsversuch, wie heute gegenüber Europa, das beim Einwanderungsproblem nicht mehr weiter weiß.

Die Fragen, die der Besuch des libyschen Führers an unsere wirtschaftlich-energetische Bequemlichkeit stellt, sind damit aber noch nicht beendet. Gaddafi erklärte vor einem Parterre von jungen, hübschen Frauen (extra auf ausdrücklichem Wunsch Gaddafis von einer Agentur gecastet), dass er sich wünsche, der Islam solle zur Religion Europas werden. Das hat an sich nichts Skandalöses, so lange jeder die Freiheit besitzt, sich zu wünschen, seine Religion möge weltweit triumphieren. Doch praktiziert Gaddafi seinen Bekehrungseifer in Rom, dem Herzen des Christentums. Und er tut dies als Gast von Berlusconi, der selbst vor kurzem mit Frankreich im Clinch lag, da die Franzosen die jüdisch-christlichen Wurzeln Europas nicht in der europäischen Verfassung erwähnt wissen wollten.

Gaddafi-Show, Teil 2

Gaddafi hatte schon bei seinem ersten Besuch in Rom eine ähnliche Show abgezogen. Man hätte eine Wiederholung voraussehen und auch vermeiden können. Es wäre ein Irrtum, seine Vorladung Hunderter von jungen Frauen, damit sie seinem Wunsch nach mehr Islam lauschten, als "Folklore" abzutun. Wie konnte es zu solch einer frauenfeindlichen Versammlung kommen, wo das Publikum nach Geschlecht und Schönheit ausgewählt wurde? Wer hat es bezahlt? Wenn man bedenkt, dass die Frage, unter welchen Bedingungen illegale Einwanderer nach Libyen abgeschoben werden — ihre Anzahl hat zwar abgenommen, doch was mit ihnen in den Lagern Gaddafis geschieht, ist weiterhin unklar — meilenweit davon entfernt ist, geklärt zu sein, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man hier Kosten und Nutzen besser hätte abwägen sollen. (j-s)

Migration

Eine Schande, aber wirksam

Das italienisch-libysche Abkommen, um die Migrantenströme aus Afrika in den Griff zu bekommen, zeigt Wirkung: Die Zahl der Migranten, die an den Küsten Süditaliens landeten, sank von 37000 im Jahr 2008 auf 9500 im Jahr 2009. Das Abkommen wird dennoch von zahlreichen Hilfsorganisationen heftig kritisiert, notiert die Neue Zürcher Zeitung, denn es gebe keine Garantien dafür, dass die Abgeschobenen auch menschenwürdig behandelt würden. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migrationen (IOM)ist das Problem mit den Abschiebungen nach Libyen nicht gelöst, solange die Herkunft der Asylanten unbekannt sei. Zudem, notiert die Schweizer Tageszeitung, würden die Migranten nun von der Türkei und Griechenland aus nach den Küsten Apuliens und Kalabriens übersetzen. Man würde dazu kleine Yachten benutzen, um die italienische Küstenwache zu täuschen. Der italienische Innenminister kündigte an, er werde demnächst mit Ankara und Athen ähnliche Abkommen wie mit Tripolis unterzeichnen.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema