Die Europäische Union stirbt

Die Europäische Union stirbt – keinen dramatischen und plötzlichen Tod, sondern langsam und stetig, so dass Amerika eines Tages über den Atlantik schauen und realisieren wird, dass die europäische Integration, die wir ein halbes Jahrhundert lang für selbstverständlich gehalten haben, nicht mehr existiert, schreibt ein ehemaliger Berater Bill Clintons.

Veröffentlicht am 2 September 2010 um 14:53

Europas Verfall ist zum Teil ein wirtschaftlicher Verfall. Die Finanzkrise forderte von vielen EU-Mitgliedsländern einen schmerzhaften Tribut und die hohen Staatsschulden sowie die geschwächten Banken des Kontinents geben weiterhin Grund zur Sorge. Aber diese Probleme verblassen im Vergleich zu einer ernsten, sich ausbreitenden Krankheit: von London über Berlin bis nach Warschau keimen in der politischen Landschaft wieder Nationalismen auf, und jedes Land klammert sich an seine Souveränität, die es vorher für einen kollektiven Traum aufzugeben bereit war.

Die Europäer scheinen sich kaum noch um das Gemeinwohl zu kümmern. Sie fragen sich, was ihnen die Union bringt und ob es das wert ist. Wenn sie diesen Weg weiter beschreiten, könnten sie eines der größten und ambitioniertesten Projekte des 20. Jahrhunderts kompromittieren: die Idee eines vereinten und friedlichen Europas, das seine Macht als Einheit behauptet. Daraus würde ein Haufen einzelner Nationen ohne jeglichen geopolitischen Einfluss. Für die Vereinigten Staaten würde dies den Verlust eines Partners bedeuten, der bereit ist, sie bei ihren internationalen Missionen zu unterstützen und dazu auch fähig ist.

Sogar Deutschland sind die Nachbarn egal

Das Desinteresse an der europäischen Einigung ist selbst in Deutschland gewachsen – in dem Land, dessen Drang, die nationalen Rivalitäten zu überwinden, immer ein Motor für Europa war. Das Zögern in Berlin, dem von einem finanziellen Debakel bedrohten Griechenland zur Hilfe zu eilen, zeugt von dem Bruch mit dem Gemeinschaftsgeist, der das europäische Projekt charakterisierte.

Der Rechtspopulismus ist im Aufschwung, vor allem aufgrund der wachsenden Ausländerfeindlichkeit. Der harte Nationalismus richtet sich nicht nur gegen Minderheiten, sondern verurteilt gleichermaßen den an die politische Einheit gebundenen Autonomieverlust. In Ungarn konnte die ultra-nationalistische Jobbik-Partei bei den diesjährigen Wahlen 47 Parlamentssitze gewinnen, während sie noch 2006 keinen einzigen hatten. Selbst in einem traditionell toleranten Land wie Holland erreichte die rechtsextreme Partei für die Freiheit (PVV) 15 Prozent der Stimmen und damit gerade mal sieben Sitze weniger als die Regierungspartei des Landes.

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Statt Friede und Einheit Kosten/Nutzen

Und als ob das noch nicht reichen würde, ging die EU-Präsidentschaft im Juli an Belgien, ein Land, in dem die Spannungen zwischen Flamen und Wallonen seit den Wahlen im Juni immer noch eine Regierungsbildung verhindern. Der derzeit mit Europas Führung beauftragte Staat leidet somit genau unter jenen nationalistischen Problemen, die die EU abschaffen sollte. Das sagt wohl alles über den Zustand der Union.

Der aufkeimende Nationalismus in der politischen Landschaft Europas ist vor allem ein Ergebnis des Generationswechsels. Für die Europäer, die während des Zweiten Weltkrieges oder des Kalten Krieges aufwuchsen, war das europäische Projekt ein Mittel, der mörderischen Vergangenheit zu entkommen. Die Dinge liegen für die jungen Europäer von heute etwas anders: Nach einer jüngsten Umfrage halten fast doppelt so viele Franzosen über 55 die EU für einen Garanten des Friedens auf dem Kontinent wie ihre Landsleute unter 36 Jahren. So ist es kaum verwunderlich, dass die neue, politische Generation von Europa in einer Kosten-Nutzen-Rechnung spricht, und nicht von einer ideologischen Frage.

Europa enttäuscht seine Partner

Währenddessen stellen die Ansprüche des Weltmarktes und die Finanzkrise die europäischen Wohlfahrtsstaaten auf eine harte Probe. In einem Zeitalter, wo das Renteneinstiegsalter angehoben und die Pensionen gekürzt werden, wird die Europäische Union oft zum Sündenbock gemacht. In Frankreich verurteilen die anti-europäischen Kampagnen die "angelsächsischen" Offensiven der EU gegen den Wohlfahrtsstaat und warnen vor dem "polnischen Klempner", der den Franzosen dank des freien europäischen Arbeitsmarktes die Butter vom Brot stiehlt.

Das Beste, was Europa im Moment wohl machen kann, ist Zeit gewinnen. Die EU scheint dennoch zum Verfall verdammt, was auch Konsequenzen außerhalb Europas nach sich zöge.

Die Regierung Obama hat schon ihrer Verärgerung über das zunehmend von der internationalen Bühne verschwindende Europa Ausdruck verliehen. "Auch wenn die Demilitarisierung von Europa, wo ein Grossteil der Bevölkerung und der politischen Klasse eine Militärmacht ablehnt, ein Segen für das 20. Jahrhundert war, stellt sie nun ein Hindernis für den Frieden und die dauerhafte Sicherheit im 21. Jahrhundert dar", beklagte der amerikanische Verteidigungsminister Robert Gates bei einer NATO-Versammlung im Februar diesen Jahres. Während die USA versuchen, ihre Schulden abzubauen und ihre Streitkräfte zu entlasten, zählt Washington auf die Hilfe seiner Verbündeten. Im Fall von Europa nimmt das Vertrauen aber immer mehr ab.

Keine neue Generation in Sicht

Die Europäer wollen von Krieg nichts wissen und haben den Geschmack an militärischen Konflikten verloren. Langsam aber sicher wird die europäische Politik immer nationaler, bis die EU irgendwann nur noch dem Namen nach eine Union ist. Für einige ist das kein großer Verlust, aber in einer Welt, wo es um Einfluss, Macht und Reichtum geht, wäre ein zersplittertes Europa ein historischer Rückschlag.

Vor sechzig Jahren waren Jean Monnet, Robert Schuman und Konrad Adenauer die Väter Europas. Heute braucht Europa eine neue Generation von Politikern, die einem gefährdeten Projekt neues Leben einhauchen können. Momentan ist diese Generation aber noch unauffindbar.

Übersetzung: Martina Ziegert

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