Nachrichten Eine Stadt in Europa
Berliner Nachtleben mit Schwein und Golda Meir. Flyers von Berlin Meschugge.

Berlin, Tel Aviv an der Spree

Touristen, Stundenten und Neuzugezogene werden immer zahlreicher: Keine europäische Metropole ist bei Israelis so beliebt wie Berlin. Neben der Erinnerung an Vertreibung und Vernichtung wollen sie vor allem eins: Spaß. Auszüge.

Veröffentlicht am 7 September 2010 um 14:14
Berlin Meschugge  | Berliner Nachtleben mit Schwein und Golda Meir. Flyers von Berlin Meschugge.

Amit und Eynat Sonnenfeld schleppen sieben Plastiktüten, der Schweiß läuft, aber für eine Pause oder ein Eis ist jetzt keine Zeit. Sie haben es eilig. Die Luft ist feucht und warm wie in Tel Aviv. Auf dem schmalen Bürgersteig am Hackeschen Markt schubsen sich die Menschen. Man möchte jetzt am liebsten weg, aber Eynat Sonnenfeld bleibt stehen und kramt den Zettel hervor, auf dem sie notiert hat, was noch erledigt werden muss. Auf ihm stehen zwei Punkte für heute: "Birkenstock" und "Sachsenhausen", das ehemalige Konzentrationslager bei Oranienburg. Amit Sonnenfeld hat Schuhgröße 56, er schwört auf Birkenstock. Die Firma wirbt in Israel auf Plakaten mit "Made in Germany". Weil die Schuhe dort aber teurer sind als in Deutschland, kauft Amit Sonnenfeld gleich drei Paare. Dann überlegt er, ob es komisch aussieht, wenn er mit Birkenstock- und Zara-Tüten durch die KZ-Gedenkstätte läuft.

Amit Sonnenfeld betreibt eine Fabrik für Luftballons, seine Frau tritt auf Intensivstationen als Clown vor krebskranken Kindern auf. Es ist ihr erster Urlaub seit langem und ihr erster Besuch auf deutschem Boden überhaupt. Eynat Sonnenfeld ist begeistert: "Berlin ist so bunt! Das hat nichts mit dem Deutschlandbild zu tun, mit dem ich aufgewachsen bin." Ihr Ehemann sagt: "Ich kann mir schwer vorstellen, dass mein Vater von hier nach Sachsenhausen deportiert wurde." Im heiligen Land boomt Berlin. Secondhandshops in Tel Aviv heißen "Salon Berlin", die Deutschkurse in den Goethe-Instituten in Tel Aviv und Jerusalem sind ausgebucht. Vor fünf Jahren noch gab es gerade einmal eine Direktverbindung zwischen Tel Aviv und Berlin, heute sind es an manchen Tagen drei. Lufthansa fliegt mit Großraumflugzeugen viermal täglich nach Deutschland.

Berlin ist Tel Aviv an der Spree

Die Stadt, in der die Vernichtung der Juden beschlossen wurde, ist als Reiseziel bei Israelis inzwischen beliebter als Prag oder Barcelona. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Zahl der Übernachtungen israelischer Touristen in Berlin verfünffacht. Fast 48 000 israelische Touristen haben im vergangenen Jahr Berlin besucht. Damit stellt das Land mit seinen nur sieben Millionen Einwohnern die größte außereuropäische Besuchergruppe nach den USA – wo 300 Millionen Menschen leben. Israelis schätzen Berlin auch als Wohnort: Die Zahl der in Berlin gemeldeten Israelis hat zwischen 1999 und 2009 um 50 Prozent zugenommen. Seit 2000 studieren doppelt so viele Israelis an den zwei Berliner Universitäten. Und sie kaufen hier auch gerne Wohnungen und Häuser, vor allem in Kreuzberg und Friedrichshain. Die Immobilienteile israelischer Zeitungen locken jedes Wochenende mit Angeboten.

Siebzig Jahre nachdem die Nationalsozialisten Juden aus ihren Wohnungen getrieben haben, gehört es in Israel zum guten Ton, auf dem Berliner Immobilienmarkt mitzumischen. Berlin ist Tel Aviv an der Spree. Man hört Hebräisch auf den Straßen und in den Clubs. Israelis assoziieren mit Berlin nicht mehr nur Vernichtung und Vertreibung. Sondern vor allem mit: Spaß haben und günstig leben. Man kann Sight-seeingtouren auf Hebräisch buchen, bei denen das Nachtleben von Kreuzberg oder das jüdische Berlin von gestern und heute erkundet wird. Man kann auch auf "Meschugge"-Partys in einem Hinterhofclub am Rosenthaler Platz zu Popsongs von Ofra Haza tanzen.

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Befreiung von Last der Vergangenheit

Es gibt noch immer Israelis, die nie einen Fuß auf deutschen Boden setzen würden. Aber es gibt auch immer mehr Israelis wie Aviv Russ, die von Deutschland nicht genug bekommen können. In Berlin zu leben, wo nach dem Willen der Nationalsozialisten kein Jude mehr leben sollte, ist auch ein Triumph. Und auch eine Befreiung von der Last der Geschichte. Wer in Israel aufwächst, lernt von Kindheit an die Geschichte des Holocaust, kennt Nachbarn mit KZ-Nummern am Arm, fährt mit der Klasse nach Auschwitz. Die jungen Israelis, die nach Berlin kommen, und Ehepaare wie die Sonnenfelds wollen das neue Deutschland kennenlernen.

Die Israelis, sagt der Tourismusmanager Kieker, "fühlen sich paradoxerweise gut aufgehoben in Berlin, obwohl sich natürlich auch ein Schaudern in jeden Besuch hineinmischt." Ein Schaudern darüber, dass hier Hitler regiert hat und Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden. Bei seinen Israelbesuchen registriere er aber auch ein Umdenken, sagt Kieker: "Die jüngere Generation sagt zwar wie die Eltern, wir vergessen nichts. Sie wollen es aber auch nicht jeden Tag zum Thema machen." Manchmal aber kommt das Thema von selbst.

Unverhofft kommt oft

Nachdem sie sich ein paarmal verlaufen und verfahren hatten, waren Amit und Eynat Sonnenfeld dann endlich irgendwann in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen angekommen. Sie hatten nur noch eine Stunde, "wir sind sofort auf das Gelände und haben uns noch gewundert, dass es am Eingang ein Café gibt. Wer braucht in einem ehemaligen KZ ein Café?"

Amit Sonnenfeld rief seinen Vater in Israel an. Vater und Sohn konnten "vor Aufregung kaum sprechen", erzählt der Sohn. Im Museum hing eine Zeichnung, die seinen Vater zeigte. "Dann waren wir so erschöpft, dass wir nicht noch einmal mit der Bahn fahren wollten." Die Sonnenfelds leisteten sich ein Taxi für die 60 Kilometer zum Hotel in Berlin. Die Fahrt haben sie nicht vergessen, sagen sie. Der Fahrer sei alt gewesen, sagt Amit Sonnenfeld. Er habe ihn gefragt, woher er stamme. "Aus Oranienburg", habe der Fahrer geantwortet. Und die Eltern? Auch. Bei den Sonnenfelds ratterte es im Kopf. Oranienburg. Ob die Eltern des Mannes im KZ gearbeitet haben? Die Sonnenfelds trauten sich nicht zu fragen. Stattdessen sagte Amit Sonnenfeld, dass sein Vater Häftling im KZ gewesen war. Der Fahrer schwieg, kein einziges Wort fiel mehr, eine ganze Stunde lang, bis sie am Hotel ankamen. "Das", sagt Amit Sonnenfeld, "war eine interessante Stille."

20 Jahre Wiedervereinigung

Die Mauer nach der Mauer

Mehr als zwanzig Jahre nach dem Mauerfall teilt heute eine unsichtbare Barriere die Stadt, schreibt La Stampa: "Südlich der Bernauer Straße liegt der Stadtteil Mitte mit Bio-Supermärkten und schicken Szenebars und nördlich der Bezirk Wedding und das Brunnenviertel mit Rekordarbeitslosigkeit und sozialem Wohnungsbau, in dem hauptsächlich türkische und arabische Familien leben." Und trotz einhelliger Empörung auf die umstrittenen Kommentare Thilo Sarrazins: der Multikulti-Mythos Berlins ist ins Bröckeln gekommen. Immer mehr tritt die Realität misslungener Integration und wachsender Ghettoisierung ans Tageslicht. Die Behörden gingen davon aus, dass die "Gastarbeiter" nicht lange in Deutschland bleiben würden und deshalb parkte man sie nur in bestimmten Stadtteilen wie Kreuzberg und Neukölln. "Mit dem Ergebnis, dass es heute mehr und mehr Kieze gibt, in denen man einkaufen oder zum Arzt gehen kann, ohne Deutsch sprechen zu müssen."

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