Der französische Immigrationsminister Eric Besson und der Europa-Staatssekretär Pierre Lellouche, Brüssel, 31. August 2010

Brüssel fordert Erklärungen aus Paris

Am 14. September drohte die Europäische Kommission Frankreich mit einem Strafverfahren gegen die Politik der Roma-Abschiebungen. In der europäischen Presse begrüßt man diese Entscheidung.

Veröffentlicht am 15 September 2010 um 13:50
Der französische Immigrationsminister Eric Besson und der Europa-Staatssekretär Pierre Lellouche, Brüssel, 31. August 2010

Bald dürfte die Europäischen Kommission Frankreich vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anklagen. "Der Kommission hatte man versichert, dass man es auf keine spezifische ethnische Gruppe abgesehen hat“, erklärte die EU-Kommissarin für Justiz, Grundrechte und Bürgerschaft, Viviane Reding, in Libération. Wie die französische Presse nun aber enthüllt, bezieht sich das im Umlauf befindliche Rundschreiben des Ministeriums eindeutig auf die Roma. Das widerspricht den gegebenen politischen Versprechen: Ein Bruch, durch den sich Brüssel nun gezwungen sieht, Ermittlungen gegen Paris einzuleiten. Sollte der Gerichtshof der Kommission Recht geben, dann "könnte man Frankreich dazu zwingen, seine Stellungnahmen zu korrigieren oder eine Strafe zu zahlen. Auch wenn das selten ist“, erklärt Públicound weist darauf hin, dass das gesamte Verfahren mehrere Jahre dauern könnte.

In diesem "vorerst noch politischen und nicht gerichtlichen Musterprozess “ kann Paris nicht mit der Unterstützung eines anderen Mitgliedsstaates rechnen, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Für das deutsche Tagesblatt geht es "nicht nur um die Geltungskraft der europäischen Verträge bis in ihre Einzelheiten hinein, sondern auch um die Auslegung der Menschenwürde aller Unionsbürger und nicht zuletzt um das Streben der Kommission, und wohl auch des Parlaments, in der Welt nicht den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, dass die EU ein Vorbild für die Achtung der Menschenrechte ist.“

Für die Madrider El País versucht "die Europäische Kommission die Untätigkeit Barrosos“ und sein „enttäuschendes Entgegenkommen“ im Hinblick auf die Frage der Roma-Abschiebungen durch Frankreich "zu kompensieren“. Für das Tagesblatt erinnert die von Viviane Reding angekündigte Entscheidung daran, dass „wahltaktischer Populismus auf Kosten von Minderheiten in der Europäischen Union seine Grenzen hat“. Mit dieser Initiative dürfte die Brüsseler Exekutivgewalt "ihre Ehre retten“ und dafür sorgen, dass man "die populistischen Maßnahmen, welche die Regierungen einiger Mitgliedsstaaten in den vergangenen Jahren durchgesetzt haben“, überarbeitet, so hofft die Tageszeitung.

„Entehrtes Frankreich“, titelt Gazeta Wyborcza. „Weder Frankreich noch ein anderes Land mit vergleichbar viel Einfluss wurde jemals derart von der Kommission zurechtgewiesen. Bisher hatte diese alles dafür getan, Paris nur nicht zu reizen“, betont die Warschauer Tageszeitung. Jedoch sei es nicht "ausreichend, Fremdenfeindlichkeit zu verurteilen. Absolut notwendig sei es auch, dass man sich "mit der schlechten Integration der Roma-Gemeinschaften in den europäischen Gesellschaften beschäftigt.“

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Redings Kritik richtet sich nicht nur gegen Situation der Roma

"Zu sehen, mit wie viel Inbrunst Viviane Reding sich traut, Frankreich – dieses große und mächtige Mitglied der EU – zu kritisieren, ist regelrecht erquickend“, schreibt Dagens Nyheter. Jedoch fragt sich die schwedische Tageszeitung, ob "der Angriff Redings allein auf die Situation der Roma abzielt“ und erinnert daran, dass "der Einfluss der Kommission“ in den vergangenen Jahren "immer geringer wurde und die Staatschefs immer mehr nach eigenem Ermessen entschieden und handelten. Wenn die Kommission nun zeigen will, dass sie fähig ist einzuschreiten, und die Mitgliedsstaaten – wie wichtig sie auch immer sind – dazu zwingen kann, die Gesetze der EU zu respektieren, so ist das der richtige Moment“.

"Es reicht !“, ruft Adevărul aus Bukarest und wundert sich darüber, dass „der wirkliche Haltbarkeitstest des EU-Fundamentes nicht im letzten Winkel der tiefen Abgründe der griechischen, portugiesischen oder spanischen Haushalte durchgeführt wird, sondern dass ärmliche Pappkarton-Lager von aus Rumänien ausgewanderten Roma in Frankreich dafür herhalten müssen“. "Wieso“ ist Viviane Reding "dermaßen verärgert?“. "Vielleicht, weil hinter der Heuchelei und ihren 300 Euro [welche die Roma-Familien erhalten, die freiwillig ausreisen] politische Ideen lauern, die um die siebzig Jahre alt sind? Oder weil man morgen vielleicht aus Paris ausreisen muss, weil man einen rumänischen Ausweis hat, oder weil man auf grünem Rasen sitzt?“

Dennoch "braucht sich Paris in keinster Weise ‚zu schämen‘ – egal was Kommissarin Vivane Reding auch sagt“, versichert Le Figaro. "Wenn die Instanzen der Union sich ein klein wenig um das Schicksal der zehn bis zwölf Millionen Menschen gekümmert hätten, deren Integration ihre Mitgliedsstaaten systematisch ablehnen und die deshalb in Europa umherirren, dann wären wir nicht an diesem Punkt angekommen“, meint das konservative Tagesblatt und fügt hinzu, dass "die Kommission ihren Ruf nicht gerade dadurch aufbessern wird, dass sie sich in die Fußstapfen derjenigen begibt, die absurde Parallelen zur Vernichtung der Juden durch die Nazis ziehen. Schließlich haben die Franzosen bereits jetzt ein wirklich nur sehr geringfügig glänzendes Bild von ihr. Indem sie ein Strafverfahren gegen Frankreich vorbereitet, gießt Barrosos Team Öl ins Feuer einer ziemlich unheilvollen Debatte und begünstigt vor allem extrem(st)e Reaktionen.“

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