Alles muss raus! Auf dem Markt Riberia, Lissabon

Portugal zum Schleuderpreis

Die europäischen Staatschefs hofften auf Portugal als Musterbeispiel für einen seriös durchgeführten Sparhaushalt. Doch ach! Lissabon muss seine „Kronjuwelen“ verkaufen, um das Defizit unter Kontrolle zu bringen.

Veröffentlicht am 18 Februar 2013 um 13:17
Alles muss raus! Auf dem Markt Riberia, Lissabon

Nach und nach löst sich der portugiesische Staat auf. Als das Land im April 2011 ein Darlehen von 78 Milliarden Euro von der Troika (EU, EZB und IWF) erhielt, um den Bankrott abzuwenden, verpflichtete es sich zur Privatisierung. Doch unter der Schirmherrschaft von Passos Coelho, der ein Musterschüler des geforderten Sparkurses ist, hat sich der Ausverkauf der „Kronjuwelen“– oder was von ihnen noch übrig ist – beschleunigt.

Das Ziel dabei ist, das Staatsdefizit drastisch zu senken. Ende 2012 schloss das Land seine Konten sehr zur Zufriedenstellung der Troika mit einem Defizit von 5,6 Prozent des BIP ab. Im Vorjahr waren es noch 6,7 Prozent gewesen. Bis Ende 2014 will man auf 3 Prozent kommen.

Ebenso wie andere Vermögenslagen von Portugal wurde die Werft von Viana do Castelo zum Verkauf angeboten. Seit 2012 lösten sich norwegische, chinesische oder brasilianische Kaufinteressenten ab, um die nationale Nummer eins der Branche an sich zu reißen. Doch die Verhandlungen kamen mit der staatlichen Organisation Empordef, der die Werft gehört, ins Stocken. „Wegen dieser Unentschlossenheit wurde jetzt alles gestoppt“, erzürnt sich Antonio Costa.

Werft für 10 Millionen

Am Ende sollte der russische Konzern RSI des Wirtschaftsmagnaten Andreï Kissilov die Werft bis März für 10 Millionen Euro übernehmen, obwohl dieser keine Erfahrung im Schiffsbau hat. Nebenbei gesagt müsste der Staat die stattliche Summe von 280 Millionen Euro an Schulden zahlen. Das ist ein trauriges Schicksal für die symbolträchtigen Werften, die nach der Nelkenrevolution von 1974 verstaatlicht wurden und bis in die 1990er Jahre mit Aufträgen überschüttet wurden. Damals beschäftigten sie bis zu 2800 Angestellte.

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Vor der Kulisse riesiger, grauer, unbeweglicher Kräne bewegen sich hunderte von Arbeitern gesenkten Kopfes und schnellen Schritts in Richtung Werftkantine. Es ist 13 Uhr, das Mittagessen wartet auf sie. Um genau zu sein sind es 526 Angestellte der Werft Viana do Castelo im Norden Portugals, die zwischen dem Fluss Lima und dem Atlantischen Ozean liegt.

Heute Morgen haben sie wie jeden Tag ihre Karte pünktlich um 8 Uhr in die Stechuhr gesteckt, um anschließend nichts zu tun. Man spielt Karten, diskutiert, schlägt die Zeit tot. Nur ungefähr dreißig von ihnen haben andeutungsweise an der Reparatur eines Schiffes gearbeitet. Seit 2007 gehen die Aktivitäten auf den Werften zurück. In den letzten Monaten tut sich aufgrund der fehlenden Bestellungen praktisch gar nichts mehr. Zwar wurde mit Venezuela ein Vertrag für zwei Tanker über 128 Millionen Euro unterschrieben, die 2014 fertig gestellt sein sollen, doch die Bauarbeiten wurden eingestellt, ohne das man wirklich weiß, warum.

„Was wir hier erleben, ist Psychoterror“

„Was wir hier erleben, ist Psychoterror“, vertraut uns an der Tür der Vorsitzende des Betriebsrates, Antonio Costa, mit angespanntem und müdem Gesicht an. „Die Nerven liegen blank, einige haben Angstzustände. Nichts zu tun und nichts zu wissen, das macht dich fertig.“ Er hat mit 14 Jahren angefangen, hier zu arbeiten. Die meisten seiner Kollegen haben vier Jahrzehnte auf diesen Kais verbracht: praktisch ein ganzes Leben.

„Fast alle wollen frühzeitig mit 55 Jahren in Rente gehen, doch das geht mit dem neuen Gesetz nicht mehr”, klagt sein Kollege José Pereira. Die konservative Regierung von Passos Coelho ist leidenschaftliche Anhängerin der Sparpläne. Sie hat die Frührenten abgeschafft und das Rentenalter auf 65 hoch gesetzt.

Die 80 000 Einwohner von Viana genau wie der Rest des Landes sind durch die große Privatisierungswelle beunruhigt. „Einige dieser Staatsunternehmen sind echte Schätze, andere sind verkommen, aber es sind alle Schlüsselunternehmen. Und wir verlieren sie für immer“, erklärt Bernardo S. Barbosa, Chef der lokalen Wochenzeitung A Aurora do Lima.

Den sozialistischen Bürgermeister José Maria Costa hingegen, plagt ein nationales Anliegen, das immer größer wird: Das Gefühl, die Selbstbestimmung zu verlieren. In einem großen Empfangszimmer des Rathauses ist der gelernte Ingenieur gegen die Politik der Regierung sehr aufgebracht: „Indem wir so wichtige staatliche Unternehmen an ausländische Firmen und damit der Privatwirtschaft in die Hände geben, verlieren wir die Kontrolle über unser Schicksal. Ich fürchte sogar, dass das letztendlich unsere Freiheit und Demokratie beeinflusst.“

Der Kampf um Alternativen

Vor Ort ruft das Schicksal der Werften ENVC die größten Ängste hervor. Nach den staatlichen Krankenhäusern, der Gemeindeverwaltung und der deutschen Firma Enercon (die 1200 Personen im Bau von Windrädern beschäftigt), ist ENVC in der Region Haut Minho der größte Arbeitgeber. Vor allem, weil Aufträge einen Multiplikatoreffekt auf alle peripheren Unternehmen haben – von der Verkehrswirtschaft über den Kleinunternehmer, der Schrauben herstellt, bis zum lokalen Handel.

„Seitdem die Werften still stehen, ist Flaute“, jammert die Hotelbesitzerin Lucilia Passos Cruz. „Wenn Beschäftigung vorhanden ist, füllen ausländische Arbeiter die Restaurants und die Hotels. Uns bleibt nur noch der Tourismus und unsere Surfspots.“

Viele sind davon überzeugt, dass es Alternativen gibt. „Anstelle unsere Werften zu verschleudern“, sagt Bürgermeister José Maria Costa, „könnte der Staat die Kontrolle über sie behalten und sich mit ausländischen Reedereien zusammenschließen. Länder wie Brasilien, Mexiko oder Chili haben hohen Bedarf an Schiffen. Man könnte mehr als 3000 Arbeitsplätze schaffen.“

Der Vorsitzende des Gewerkschaftsverbandes Branco Viana ist gleicher Meinung: „Der Staat sollte mindestens 35 Prozent der Aktien behalten. Die Russen [als künftige Käufer, ndlr] haben versprochen, die Arbeitsplätze zu erhalten. Doch in fünf Jahren können sie die Werft ohne Weiteres stilllegen und die 526 Arbeiter ihrem Schicksal überlassen. Und gegen wen können wir Gewerkschaftsverbände uns dann wenden, um zu protestieren? Der Staat ist dann aus dem Schneider!“

Aus Lissabon

626.000 Arbeitsplätze in 5 Jahren verschwunden

Portugal verliert jedes Jahr über 100.000 Arbeitsplätze und innerhalb von fünf Jahren wird die portugiesische Wirtschaft mehr Arbeitsplätze verloren haben als Lissabon an Einwohnern hat, schreibt die Wochenzeitung Expresso. Die Voraussagen der portugiesischen Landesbank für die zukünftigen Beschäftigungsquoten sind düster. Ende 2013 soll es in Portugal 626.000 Arbeitsplätze weniger geben als 2008, dem ersten Jahr der Finanzkrise.

Entsprechend den Daten, die das portugiesische Statistikinstitut am 13. Februar bekanntgab, ist die Arbeitslosigkeit in Portugal im letzten Quartal 2012 auf 16,9 Prozent gestiegen.
„Das war eine düstere Zeit für den portugiesischen Arbeitsmarkt“, seufzt Expresso und schreibt weiter:

Eine der Hauptsorgen sind die über 500.000 Arbeitslosen, die überhaupt keine Unterstützungsleistungen empfangen. Für viele von ihnen folgt auf diese Situation die Armut.

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