"Wenn du auf die D-Mark verzichtest, helfe ich dir bei der Wiedervereinigung..."

Der Preis der Einheit

Während die Deutschen den Fall der Mauer bejubelten, feilschten Bonn und Paris heimlich um die Europäische Währungsunion. Die Verhandlungen drohten zu scheitern, so belegen interne Regierungsdokumente. Mussten die Deutschen ihre Mark für die Wiedervereinigung opfern?, fragt der Spiegel.

Veröffentlicht am 1 Oktober 2010 um 16:12
"Wenn du auf die D-Mark verzichtest, helfe ich dir bei der Wiedervereinigung..."

Der Architekt der deutschen Einheit ist zornig. Wolfgang Schäuble, Innenminister unter Helmut Kohl und Verhandlungsführer beim Einigungsvertrag, reiht in kurzen Abständen Ausdrücke tiefsten Missfallens aneinander. Schäuble hält ein dickes Buch in der Hand. Auf dem Cover blickt Peer Steinbrück [führender SPD-Politiker] entschlossen in die Ferne. Was Schäuble aufbringt, ist ein schlichter Satz im zweiten Kapitel, gut versteckt in einer langen Abhandlung über den "lahmenden Stier" Europa. "Die Preisgabe der D-Mark gegen den (gleichermaßen) stabilen Euro", heißt es da, "war eine der Konzessionen, die dazu beitrugen, den Weg zur deutschen Vereinigung zu ebnen."

"Einen solchen Handel hat es nie gegeben", bekräftigt Schäuble. Steinbrück dagegen ist sich sicher. Wer mit französischen Regierungsvertretern rede, sagt er, erhalte die These dutzendfach bestätigt. Hubert Védrine zum Beispiel, damals Berater von Präsident François Mitterrand, ist überzeugt, dass sein Chef ohne deutsche Zugeständnisse in Sachen Währungsunion der Vergrößerung der Bundesrepublik kaum zugestimmt hätte: "Mitterrand wollte keine Wiedervereinigung ohne einen Fortschritt bei der Europäischen Integration", sagt Védrine. "Und das einzige Terrain, das vorbereitet war, war die Währung."

Der Euro- eine kränkelnde Frühgeburt

Es geht um mehr als um einen Streit unter Politikern, es geht um das historische Urteil über die zentralen Regierungsprojekte der vergangenen Jahrzehnte. Hätten die Franzosen recht, würde nicht nur ein Schatten fallen auf den nationalen Glückstag der Deutschen. Es würde auch den Euro beschädigen, der in Deutschland nicht erst seit den Rettungspaketen für Griechenland als ungeliebtes Kind gilt. Schon immer haben Kritiker wie der frühere Kanzler Gerhard Schröder das Gemeinschaftsgeld für "eine kränkelnde Frühgeburt" gehalten. Nun könnten sie auch noch behaupten, dass den Deutschen der Euro quasi aufgezwungen wurde. Denn bislang geheime Dokumente aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes, die dem SPIEGEL vorliegen, zeigen, dass die Verknüpfung noch viel enger war als bislang bekannt. Gegen die Wiedervereinigung drohte sich eine breite westeuropäische Allianz zu formieren, und das deutsch-französische Verhältnis stand kurz vor dem Bruch. Unverblümt warnte Mitterrand damals die Bonner Regierung, sie könnte in Europa bald so isoliert dastehen "wie 1913".

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Die Papiere zeigen auch: Hätten Bonn und Paris ihre Differenzen in jenen dramatischen Tagen nicht überwunden, wäre die Geschichte womöglich anders verlaufen: bei den internationalen Verhandlungen über die deutsche Einheit genauso wie in Sachen Währungsunion.

Denn bis zu jener krisenhaften Zuspitzung Ende 1989 ist die Debatte um das europäische Gemeinschaftsgeld eher nach üblichem Brüsseler Tempo verlaufen, zäh und träge. Stets scheitern die Versuche am Interessengegensatz zwischen den Inflationsländern des Südens und dem sogenannten Hartwährungsgürtel um Deutschland und die Niederlande. Vor allem die Franzosen leiden unter dem existierenden Währungssystem, das sie als perfide Zweiklassenordnung zu ihren Lasten empfinden. "Was für uns die Atombombe ist", heißt es im Elysée-Palast, "ist für die Deutschen die D-Mark."

"Der Euro kommt erst in 100 Jahren"

So groß sind die Differenzen, dass sich der damalige Bundesbank-Präsident Karl Otto Pöhl keine großen Sorgen macht, den Start des geplanten Europageldes jemals zu erleben. "Ich war überzeugt", sagt Pöhl, "das kommt frühestens in hundert Jahren." Nur: Über Nacht rückt ein Thema auf die Tagesordnung der Weltpolitik, das den meisten Zeitgenossen noch viel utopischer anmutet als die Idee einer europäischen Gemeinschaftswährung: die deutsche Wiedervereinigung. Ende November 1989 schlägt Kohl in seiner Zehn-Punkte-Erklärung eine deutsch-deutsche Konföderation vor, damit "das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann".

Die westlichen Verbündeten sind nicht eingeweiht, umso kritischer sehen sie die Pläne. Bereitet Kohl hinter ihrem Rücken einen deutschen Sonderweg vor? Will der Kanzler im Herzen Europas ein neues Großdeutschland errichten?

Als Mitterrand von Kohls Erklärung hört, kommt es zu "einem kleinen Zornesausbruch, der einige Stunden dauert", wie seine Berater süffisant vermerken. Wie sehr sich der Präsident hintergangen fühlt, stellt sich kurze Zeit später heraus. Außenminister Hans-Dietrich Genscher ist in den Elysée geeilt. Es wird ein denkwürdiges Treffen. Deutlicher als in diesem als "geheime Verschlusssache" klassifizierten Protokoll lässt sich bislang kaum irgendwo nachlesen, wie eng Mitterrand sein Ja zur Einheit an deutsche Zugeständnisse bei der Währungsunion geknüpft hat. "Deutschland kann nur dann auf die Wiedervereinigung hoffen", doziert der Präsident, "wenn es in einer starken Gemeinschaft steht." Aber, so beklagt Mitterrand, mit dem deutschen Gemeinschaftsgeist sei es aktuell nicht weit her. "Man braucht kein Psychologe zu sein, um zu erkennen, dass die Bundesrepublik Deutschland auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion zurzeit bremst", bedauert er.

Oberste Priorität: die europäische Währungsunion

Genscher versteht sofort, wie die düsteren Andeutungen gemeint sind: Mitterrand droht mit einem Veto gegen die Wiedervereinigung. Käme es dazu, hätte Bonn nicht nur Großbritanniens Premierministerin Margaret Thatcher gegen sich.

Der Außenminister zeigt sich einsichtig. Und dann gibt er dem Präsidenten eine nicht unerhebliche Zusage: "Es ist notwendig", sagt Genscher, "in Straßburg eine Entscheidung über die Regierungskonferenz zur Vorbereitung der Wirtschafts- und Währungsunion zu treffen." Aber als Kohl und Genscher am 8. Dezember 1989 den Straßburger Konferenzsaal betreten, schlägt ihnen eine eisige Atmosphäre entgegen. Nur mit Mühe gelingt es den Deutschen, ihren EG-Partnern eine mit Vorbehalten und Bedingungen gespickte Zustimmung zur deutschen Einheit abzutrotzen. Im Gegenzug wird der französische Zeitplan für die Währungsunion im Prinzip abgenickt. Von einer politischen Union ist keine Rede.

Nun geht alles sehr schnell. Im Sommer 1990 unterzeichnen Bundesrepublik und DDR den Einigungsvertrag, am 3. Oktober treten die neuen Länder der Bundesrepublik bei. Im Dezember starten die EG-Staatschefs in Rom die Regierungskonferenz zur Europäischen Währungsunion. Als sie im Februar 1992 die Maastrichter Verträge zur Einführung des Euro unterschreiben, fühlt Genscher eine tiefe Genugtuung: "Für mich symbolisierte dieser Akt die Einlösung meiner im deutschen Vereinigungsprozess gegebenen Zusagen".

War die Aufgabe der Mark der Preis für die Einheit?

Die Frage ist schon deshalb nicht eindeutig mit ja zu beantworten, weil wichtige Entscheidungen über den Euro erst später fallen, zum Beispiel im Jahr 1992, als die Franzosen den Maastricht-Vertrag bei einem Referendum nur mit hauchdünner Mehrheit passieren lassen.

Und doch lässt sich kaum bestreiten, dass der Sturz der ostdeutschen SED-Herrschaft das Währungsprojekt in einer entscheidenden Etappe seiner Geschichte vorangebracht hat. "Möglicherweise wäre die Europäische Währungsunion gar nicht zustande gekommen ohne deutsche Einheit", sagt der frühere Bundesbank-Chef Karl Otto Pöhl. "Kohl wusste, dass er, um die Wiedervereinigung akzeptabel zu machen, Europa voranbringen musste", sagt der frühere Mitterrand-Berater Hubert Védrine.

Es war ein Zugeständnis, von dem am Ende vor allem die beiden Regierungschefs profitierten. Indem er Deutschlands Osterweiterung zuließ, half Mitterrand, Kohl zum Kanzler der Einheit zu machen. Das wiederum verschaffte Kohl die Position, den Deutschen die Mark zu nehmen - einer der größten Triumphe in Mitterrands Amtszeit.

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