Tschernobyl, Deep Water Horizon, und jetzt Ajka. Kolontár, Luftaufnahme vom 8. Oktober 2010

Giftschlamm: Alarmstufe rot

Die erste Welle des Giftschlamms aus Ungarn hat das Donaubecken erreicht. Für die europäische Presse zeigt die Katastrophe, dass europaweit verbindliche, höhere Sicherheitsstandards für die Industrie nötiger denn je sind.

Veröffentlicht am 8 Oktober 2010 um 14:52
Tschernobyl, Deep Water Horizon, und jetzt Ajka. Kolontár, Luftaufnahme vom 8. Oktober 2010

Das Ende von Kolontàr. Bei seinem Besuch im ersten Ort, der vom ausgelaufenen Giftschlamm aus dem Auffangbecken einer Aluminiumfabrik zerstört wurde, erklärte der ungarische Regierungschef Victor Orbán, dass es sinnlos sei, das Dorf wieder aufzubauen. Man könne dort nur mehr eine Gedenkstätte errichten. Ein Vorschlag, den Népszabadság zur Schlagzeile auf dem Titelblatt wählte. Wie die gesamte ungarische Presse, so fragt sich auch Népszabadság, wer für die Katastrophe vom 5. Oktober verantwortlich sei, bei der sechs Menschen starben und 150 Menschen vom giftigen Schlamm aus dem Werk verätzt wurden.

Magyar Nemzet hebt hervor, dass „der Staatsekretär im Umweltministerium zuvor der lokalen Aufsichtsbehörde angehörte. Er war es, der vor zwei Wochen ein Dokument unterschrieb, in welchem die tödliche Brühe als 'ungefährlicher Industriemüll' qualifiziert wird.“

„Das rote Gift erreicht die Donau und am Dienstag Rumänien“, schreibt die Bukarester Zeitung Adevărul besorgt. Trotzdem kann sich das Blatt die Ironie nicht verkneifen und meint, dass es nun „1 zu 1 im Katastrophen-Match steht“. Anspielung auf ein ähnliches Unglück im rumänischen Baia Mare im Jahr 2000. Damals brach der Damm einer Golderzwiederaufbereitungsanlage und mehr als 100.000 Kubikmeter giftiger Schlamm ergossen sich in rumänische und ungarische Gewässer. Beim Werk von Ajka handelt es sich um mehr als eine Million Kubikmeter, die ins Donaubecken fließen.

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Die vielen schlummernden Umweltbomben

„Alle müssen die Lehren aus dieser neuen Katastrophe ziehen!“ schimpft Jurnalul naţionalauf der Titelseite. Das Blatt aus Bukarest ist der Auffassung, dass „einfach zum Nachbarn herübergucken und versuchen Katastrophen zu vermeiden anstatt auf veraltete Technologien zu verzichten nichts anderes ist, als sich dem 21. Jahrhundert zu verweigern. Heute ermöglichen neue Technologien und europäische Normen, Katastrophen zu 99 Prozent zu vermeiden.“ Und Staat wie Zivilgesellschaft, fordert das Blatt, „müssen Investoren zwingen, dafür zu sorgen, dass dieses letzte Prozent nie Wirklichkeit wird.“

Doch leider, warnt die Presse, ist Europa noch nicht am Ende der bösen Überraschungen. Die Wiener Tageszeitung gibt an, dass es in vielen zentral- und osteuropäischen Staaten vor „Umweltzeitbomben“ nur so wimmelt. Auf zahlreichen veralteten Industriestandorten „sind umweltgefährliche Technologien und ihre Folgen, ungesicherte Depots und Auffangbecken, Ergebnis der staatssozialistischen Industrialisierung“, erklärt das Blatt. So wurde „während der KP-Ära in Ajka Bauxit verwendet, zu Tonerde verarbeitet in die Sowjetunion transportiert und als Aluminium wieder importiert. Die Umweltlasten trug und trägt Ungarn.“

Lobbys durchlöchern die Sicherheitsbestimmungen

Allein in Ungarn, schreibt die Presse, gelten 21 Standorte als gefährlich, darunter auch mehrere ehemalige sowjetische Flughäfen. Ajka rangiere auf dieser Liste auf Rang zwölf. Noch gefährlicher sei die Lage beim Auffangbecken im westrumänischen Oradea. Es gehört zu einem Tonerdewerk, dass nach der Wende zugesperrt worden ist, danach an einen russischen Investor verkauft wurde, der 2006 pleite ging. Seither modern Fabrik und Auffangbecken vor sich hin, ohne dass jemand protestiere.

„Bei Katastrophen mit derartigem Ausmaß wenden wir uns sofort an die Europäische Union“, stellt De Standaard aus Brüssel fest. „Und das ist auch gut so. Das Bewusstsein, wie sehr wir voneinander abhängen, kann dem europäischen Integrationsprozess nur hilfreich sein.“

Doch die flämische Tageszeitung beklagt, dass es „große Lücken in den europäischen Richtlinien gibt. Mächtigen Interessenvertretern und Lobbys gelingt es noch allzu oft, die Regelungen zu durchlöchern. Und allzu oft wird das Gemeinwohl erst nach einer Katastrophe zur Priorität.“ Es liegt also an den nationalen und europäischen Behörden, eine die Umsetzung der Verordnungen besser zu kontrollieren. Denn „die Menschen haben weiterhin ein zwiespältiges Verhältnis zu Europa. Es gibt keinen besseren Weg, die Herzen der Menschen zu gewinnen, denn als strenger Wächter des Gemeinwohls zu handeln.“ (js)

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