Jugendliche gegen Polizei, wo einst '68 begann. Nanterre bei Paris, 19. Oktober 2010

Läuft der Protest aus dem Ruder?

Am Rande der Demonstrationen gegen die Rentenreform kommt es immer häufiger zu Krawallen, insbesondere unter Jugendlichen. Die französische Presse fürchtet eine Zuspitzung der Situation.

Veröffentlicht am 19 Oktober 2010 um 14:29
Jugendliche gegen Polizei, wo einst '68 begann. Nanterre bei Paris, 19. Oktober 2010

Die Anfang September begonnene Protestbewegung gegen die Rentenreform radikalisiert sich seit Mitte Oktober. Schüler und Studenten haben sich dem Protest angeschlossen, Raffinerien und Tanklagern sind blockiert.

Libération glaubt in dieser Situation eine neue „furchtbare“ Achse der französischen Politik zu erkennen: ein Bruch zwischen der Elite und dem Volk. „Auf der einen Seite Regierung, Gewerkschaftsführer und Regierungsparteien, die bereit sind, den Konflikt mit einem Kompromiss zu beenden. Auf der anderen Seite die Basis der Arbeitnehmer, die Schüler, manche aufgebrachte Berufsgruppen, einige Verbände der CGT des größten Gewerkschaftsverbands Frankreichs sowie hier und dort in der Menge verstreut radikale Aktivisten. Wenige, aber aktive. Jene Aktivisten sind die Inkarnation jener Minderheit aus dem Volk, die jede Manager-Logik absolut ablehnt.“

Privilegierte Protestierer aus dem Bürgertum

Wie zu erwarten prangert Le Figaro „die Streikenden mit Spätzündung“ an, die „privilegierten Berufsgruppen abgehören.“ Für das konservative Blatt handelt es sich bei den Streikenden „um Rentiers des öffentlichen Dienstes und Berufsgruppen mit Sonderstatus. Sie sind die wahren Konservativen. Sie profitieren von unzähligen Privilegien und wollen, dass sich nichts bewegt, nichts ändert, dass Frankreich sich weiter verschuldet, damit sie weiter auf Kosten des Lands ein schönes Leben führen können.“ Les Echos unterstreicht, dass „weder die Gesetze der Republik noch unser Verständnis des Streikrechts es erlaubt, eine Raffinerie oder ein Tanklager zu blockieren oder Schiene und Straßen zu versperren.“

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Doch die Mobilisierung der Jugendlichen habe tiefer liegende Gründe. Le Figaro befürchtet die Vorzeichen „eine Kriegs der Generationen“ zu erkennen. „Er beginnt vielleicht vor unseren Augen und das ist beunruhigend. Es ist schleierhaft, was die Jugendlichen eigentlich antreibt, sich dem Protest anzuschließen. Wenn es nur die Gelegenheit ist, angestachelt von den Sozialisten, einmal mehr gegen Sarkozy zu meckern, wäre das nicht weiter schlimm ..., doch wenn dies der erste Misstrauensreflex gegenüber der umlagefinanzierten Rente sein sollte, dem Sockel der französischen Gesellschaft seit 65 Jahren, wäre das viel alarmierender.“

Wenn die Jugend mitmacht: Sarkozys Alptraum

Heute gebe es, fügt Slate hinzu „neben der Altersversorgung viele verständliche Gründe, dass die jungen Menschen rebellieren. Erstaunlich ist eher, dass in einem eruptiven und aufsässigen Land wie Frankreich, in dem die oftmals prekarisierte Jugend eher als ein Problem denn als eine Lösung begriffen wird, sich die jungen Menschen nicht schon früher revoltierten. Für Präsident Sarkozy ist die Teilnahme der Schüler an den Demos ein Alptraum. Klassischen sozialen Unruhen zu widerstehen, hätte sich für ihn politisch auszahlen können. Doch die Schüler auf der Straße könnten ihm fatal werden.“

Und für alle, „die eine Parallele ziehen wollen mit der „Chienlit“ (den „Bettscheißern“- nach dem geflügelten Wort von de Gaulle) von Mai 1968 und der Reaktion der Konservativen im selben Jahr ziehen wollen“, weist das Online-Magazin daraufhin, „dass das Frankreich von 1968, in dem sich die Jugend langweilte, spießig aber florierend war. Heute ist es das Gegenteil.“

Übersetzung: Jörg Stickan

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