Eine von Eugène Delacroix’ Gemälde “Die Freiheit führt das Volk” inspirierte Freske im sardischen Dorf Orgosolo

Pulverfass Mittelschicht

Unsere Politiker haben noch nicht realisiert, dass sie auf einem Pulverfass sitzen, warnt der polnische Philosoph Marcin Król. Denn die Mittelschicht, der man jegliche Aussicht auf sozialen Aufstieg verweigert, könnte als letzten Ausweg die Revolution wählen, um sich Gehör zu verschaffen.

Veröffentlicht am 10 April 2013 um 10:59
Luigi_Passeto  | Eine von Eugène Delacroix’ Gemälde “Die Freiheit führt das Volk” inspirierte Freske im sardischen Dorf Orgosolo

Entgegen der weit verbreiteten Annahme sind es nicht die Armen und Bedürftigen, die im Westen rebellieren, sondern die Mittelschicht. Das traf bisher auf alle Revolutionen zu, allen voran auf die Französische Revolution. Nur bei der Oktoberrevolution handelte es sich in Wahrheit um einen Staatsstreich in Zeiten extremer politischer Unruhen.

An welchem Punkt entscheidet sich die Mittelschicht für eine Revolution? Es kann dabei nicht von der gesamten Mittelschicht gesprochen werden, nicht einmal von einer organisierten Gruppierung oder einer Gemeinschaft. Es geht um die Führungspersönlichkeiten dieser Schicht, die heute die Wahlen in Europa gewinnen und die als unverantwortlich bezeichnet werden (denn sie gehören nicht der traditionellen politischen Klasse an). Dennoch erfreuen sie sich nicht nur großer Beliebtheit, sondern sind auch noch erstaunlich effizient.

Eine neue Form der Diskriminierung

Im klassischen Fall der Französischen Revolution wurde die Rolle der revolutionären Avantgarde von Anwälten, Unternehmern, Beamten und einem Teil der Armeeoffiziere eingenommen. Der Wirtschaftsfaktor war wichtig, aber nicht entscheidend. Die Protestbewegung wurde vor allem dadurch ausgelöst, dass eine Teilnahme am öffentlichen Leben und ein sozialer Aufstieg unmöglich waren. Als die Aristokratie mit allen Mitteln den Einfluss der Anwälte und Geschäftsmänner zu begrenzen versuchte, beschwor sie die Revolution herauf. In ganz Europa, außer im braven England, war die neue Mittelschicht mit ihren Bürgern zweiter Klasse unfähig, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Wie steht es heute um die Diskriminierung? Es gibt sie noch immer, wenn auch in anderer Form. Denn natürlich beansprucht die Aristokratie heute nicht mehr das Entscheidungsmonopol für sich, aber Banker, Börsenspekulanten und Manager, die hunderte Millionen Euro verdienen, halten die Mittelschicht geschickt vom Entscheidungsprozess fern. Aber diese muss die Konsequenzen tragen. Zypern ist das jüngste und beste Bespiel dafür.

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Die Liste lässt sich fortsetzen. Nicht nur in Polen, sondern in ganz Europa bangen Universitätsprofessoren um ihre Arbeitsplätze, besonders wenn sie unglücklicherweise ein Fach lehren, welches von der Europäischen Union, den Mitgliedsländern und den internationalen Konzernen, die den Arbeitsmarkt bestimmen, als unnützlich angesehen werden.

„Die Situation ist hoch explosiv”

In der Slowakei sind die Humanwissenschaften heute fast völlig von der Bildfläche verschwunden, so dass sich Geschichts-, Grammatikexperten oder Ethnographen ernsthaft Sorgen machen müssen. Bald werden auch andere Berufsgruppen betroffen sein, so wie die Angestellten im öffentlichen Dienst, deren Zahl in der Vergangenheit explosionsartig angestiegen war. Ist es ihr Fehler? Sicher nicht. Was kann ein entlassener Beamter nach 15 Jahren Dienstzeit tun, der nur die Sicherheit seines Arbeitsplatzes kennt? Wahrscheinlich nicht viel. Das gilt auch für die jungen Akademiker, Künstler oder Journalisten, die auf dem Arbeitsmarkt kaum Fuß fassen können.

Revolutionen werden durch den Ausschluss aus Berufs- und Gesellschaftsleben und aufgrund eines demokratischen Defizits ausgelöst. Sie richten sich auch gegen die Generationsschranken oder ganz einfach gegen die Dominanz der älteren Menschen.

Es ist kein Zufall, dass die Anführer der Französischen Revolution kaum älter als dreißig Jahre waren, während der Altersdurchschnitt der Entscheidungsträger beim Wiener Kongress (1815), der die konservative europäische Ordnung wieder herstellte, bei mehr als sechzig Jahren lag. Das Alter der aktuellen europäischen Führung liegt zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Bei dem heutigen medizinischen Fortschritt ist es sehr wahrscheinlich, dass in zwanzig Jahren Frau Merkel und die Herren Cameron, Tusk und Hollande immer noch im Geschäft sein werden. Vorausgesetz, sie werden nicht durch eine Revolution aus dem Weg geräumt.

Revolution bedeutet totale Zertörung

Der Aufstieg der heutigen, mehrheitlich jungen Mittelschicht wird entweder von Milliardären, älteren Menschen oder jenen, die von einem 25-Jährigen als solches angesehen werden, verhindert. Die Situation ist hoch explosiv. Es ist ein Fehler zu glauben, dass die gegen das System aufgebrachten jungen Menschen, die vielleicht nicht der typischen Sprache der politischen Parteien und der strukturierten Politikbewegungen mächtig sind, keine organisierte Rebellion zustande bringen könnten. Eine Revolution wurde noch nie im Namen einer einzelnen Gesetzesänderung wie die strengere Bankenüberwachung ausgelöst, sondern weil es einfach nicht mehr möglich ist, so weiter zu leben. Eine Revolution, eine totale Opposition zu den Methoden der politischen Parteien, benutzt keine politische Sprache. Die Revolution schreit, brüllt, ist von Natur aus ungeordnet, aber manchmal sehr wohl hörbar.

Wollen wir nun eine Revolution oder nicht? Meiner Meinung nach eher nicht, denn Revolution bedeutet totale Zerstörung für den Aufbau einer neuen Ordnung. Nichts desto trotz haben unsere Politiker nicht wirklich verstanden, dass sie auf einem Pulverfass sitzen. Sie wollen es nicht sehen, weil sie von einer einzigen Idee besessen sind: zu dem stabilen Staat zurückkehren, der vor zehn oder zwanzig Jahren existierte. Sie wissen nicht, dass es in der Geschichte keinen Weg mehr zurück gibt, und dass ihre Absichten an die so wahre Aussage von Karl Marx erinnern: die Geschichte wiederholt sich, aber nur als Farce.

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