Sarkozy, Merkel und der Vertrags-Irrsinn

Am 28. und 29. Oktober werden Deutschland und Frankreich in Brüssel versuchen, ihre Partner davon zu überzeugen, den Vertragstext der Union zu reformieren, um die Haushaltsdisziplin der Länder zu garantieren. Eine ebenso simple wie unnütze Idee, schreibt ein spanischer Leitartikler.

Veröffentlicht am 28 Oktober 2010 um 15:11

Vor einen Monat erklärte Felipe González [ehemaliger Ministerpräsident Spaniens] im Kloster von Sant Benet in Bages vor Unternehmern: „Viel zu lange schon führt uns die Europäische Union in die Irre: Es muss Schluss sein mit dem ständigen Ändern der Verträge, denn die Erfahrung zeigt, dass jeder wie er will eine Reform blockieren kann.“ Er hatte wahrlich Recht. Eine x-te Reform, wenn die vorangegangene noch nicht einmal in Kraft getreten ist? Neue Volksabstimmungen in Irland? Weitere Erpressungsversuche aus der Tschechischen Republik? Weiter andauernder Tiefschlaf der Institutionen? Wie leichtfertig! Wie langweilig! Welch eine Zeitverschwendung! Welch eine Endogamie! Welch eine Aufforderung zur Blockade!

Einen Europäischen Währungsfonds schaffen? Tolle Idee! Dafür den EU-Vertrag zu ändern, um sanktionieren zu können, wäre aber reiner Zeitverlust, wenn nicht schlimmer. Doch Paris und Berlin sehen das ganz anders. Sie meinen, eine kurzfristige Reform durchpeitschen zu müssen, um den Euro-Stabilitätspakt zu erweitern. Ein reines Gedankenspielchen, denn auch vereinfachte Reformen müssen erst einmal verabschiedet werden.

Wirtschaftssanktionen sind unglaubwürdig

Der EU-Gipfel vom 28. und 29. Oktober wird – oder auch nicht – die neuen Regeln für Sanktionen gegen Defizitsünder verabschieden. Das ist kein größeres Problem. Nur sind sie leider unglaubwürdig. Da sie nicht automatisch ausgesprochen werden, wird man niemanden glauben machen können, dass sie irgendwann auch auf Deutschland oder Frankreich angewendet werden können. Genauso wenig wie die vorherigen Regeln auch nicht griffen, als nämlich 2003-2005 das Defizitverfahren gegen Frankreich und Deutschland kurz und bündig ausgesetzt wurde.

Der Gipfel wird die Gelegenheit bieten, den deutsch-französischen Vorschlag zu prüfen, ob man aus dem im vergangenen Mai verabschiedeten EU-Rettungsschirm für überschuldete Länder (750 Milliarden Euro eine feste Institution macht, anders gesagt, einen Europäischen Währungsfonds EWF. Eine fantastische, großartige Neuerung. Der Gipfel soll auch klären, wie das Übertreten der Maastricht-Kriterien bestraft werden soll. Soll man den chronischen Defizitsündern das Stimmrecht absprechen? Das ist mehr als diskutabel, denn ein wirtschaftliches Fehlverhalten verlangt nach einer Geldstrafe und nicht nach einer politischen Sanktion.

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Der Bluff vom Bundesverfassungsgericht

Muss der EU-Vertrag für diese zwei Maßnahmen geändert werden? Ja, wenn das Stimmrecht aus finanziellen Gründen entzogen werden soll. Es wäre allerdings kurios, dass ausgerechnet Frankreich diesen Vorschlag unterbreitet, ein Land, das eigentlich schon hätte abgestraft werden sollen und zwar für Verletzungen „der Menschrechte, einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören“ Art. 2 des EU-Vertrags. Weiterhin hätte Frankreich laut Art.7 auch das Stimmrecht entzogen werden sollen, wegen der „Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der (demokratischen) Werte.“

Kurz gesagt, den EU-Vertrag für einen sicherlich wichtigen, aber untergeordneten Wert wie die Haushaltsdisziplin zu reformieren, ist überflüssig und pure Zeitverschwendung. Für die Schaffung eines EWF ist solch eine Reform nicht notwendig. Noch vor der Schaffung des auf drei Jahre befristeten Rettungsschirms erklärte Angela Merkel, dass ein derartiger Fonds ohne eine Reform des Lissabon-Vertrags unmöglich wäre, da das Verfassungsgericht in Karlsruhe sein Veto einlegen würde. Nichts dergleichen ist passiert, denn Artikel 122 des Lissabon-Vertrags (der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) lässt das durchaus zu.

Merkel und Sarkozy verschwenden unsere Zeit

Vier Urteile des BVG in Karlsruhe zur Europäischen Währungsunion und zur EU gingen jedes Mal in die Richtung der europäischen Integration, trotz kleiner nationaler Vorbehalte.

Am 12. Oktober 1993 billigte das BVG den Maastricht-Vertrag, solange nationaler Grundrechtschutz gewährleistet sei und „nicht durch einen substanziellen Kompetenztransfer gefährdet werde.“ Am 31. März 1998 billigte das Gericht die dritte Phase der Währungsunion, denn sie sei „nicht Sache des Gerichts, sondern des Parlaments.“ Am. 30. Juni 2009 gab das BVG grünes Licht für den Lissabon-Vertrag, denn dieser würde nicht grundsätzlich das Hoheitsrecht auf die Erhebung und Art der Steuern an die EU abtreten.

Zudem würde der „Kerngehalt“ der „staatlichen Souveränität“ gewahrt. Am 7. Mai dieses Jahres machte das BVG den Weg für die Rettung Griechenlands frei, „um die Währungsunion nicht zu gefährden“ und da die „Möglichkeit einer Inanspruchnahme des Bundes eher gering“ sei. Es ist davon auszugehen, dass Karlsruhe diese Linie weiterverfolgen wird. Es wird also erst gebremst und dann der Weg für Berlin freigemacht. Warum also beharren Angela und Nicolas darauf, uns überflüssige Anstrengungen aufzuerlegen? Oder uns gar an den Rand des Abgrunds zu treiben? (js)

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