Ihr glaubtet euch in Frieden? Dracula in der Leinwandversion von 1931

Hilfe, Lissabon ist zurück!

Warum sollte der Vertrag, der letztes Jahr in Kraft trat, nun geändert werden? Die europäische Presse reagiert überaus reserviert auf die Entscheidung der 27, die gemeinsame Währung so konsolidieren zu wollen.

Veröffentlicht am 29 Oktober 2010 um 15:35
Ihr glaubtet euch in Frieden? Dracula in der Leinwandversion von 1931

Nach langen Diskussionen sind die Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat zusammengetreten und haben am 28. Oktober in Brüssel finanzielle Sanktionen gegen Schuldensünder beschlossen. Außerdem einigte man sich darauf, den Vertrag von Lissabon umzugestalten, um die Schaffung eines ständigen Verbandes zu erleichtern, der die Länder der Eurozone unterstützt. „Merkel gewinnt den Euro-Poker“, stellt die Financial Times Deutschland fest, denn die deutsche Kanzlerin, vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy unterstützt, forderte die Überarbeitung des Vertrages trotz des Widerstands mehrerer Mitgliedsstaaten.

„Frau Kanzlerin regiert Europa“, rebelliert Rzeczpospolita in Warschau. „Die EU befindet sich mitten in einer erneuten Krise, aber jede Krise macht uns nur noch stärker. Der einzige Weg ist noch mehr Integration“, macht sich Leitartikler Marek Magierowski lustig. „Europa muss sich entwickeln, muss Gas geben, wenn es aufhört zu radeln, dann wird es umkippen... Wie häufig haben wir schon dieses Geschwafel Luxemburger Politiker, deutscher Leitartikler und polnischer Experten gehört.”

Schlimmer als russisches Roulette

„Die Euro-Enthusiasten sollten schnellstens ihre Füller zücken und diesen Sinneswandel rechtfertigen; und auch, warum Angela Merkel und Nicolas Sarkozy den Vertrag plötzlich nicht mehr mögen“, fügt Magierowski hinzu. „Die gemeinsame Währung retten zu wollen ist natürlich eine ehrenwerte und rühmliche Sache. Aber stärker als je zuvor hört man die europäischen Politiker sich sorgen und fragen, warum die EU immer den Launen Deutschlands nachgeben soll.”

José Ignacio Torreblanca im El País erinnertseinerseits daran, dass das „deutsch-französische Bündnis sicherlich Frieden, Stabilität und Wohlstand nach Europa gebracht hat.“ Doch heute, befindet der Kommentator, kann man nicht ignorieren, dass Paris und Berlin „jede kleine Gelegenheit maximal ausgenutzt haben, ihre strategischen Interessen zu wahren, selbst wenn es zum Nachteil der anderen EU-Mitglieder war". Die 27 mitten in der Wirtschafts- und Bürgerkrise in einen neuen Ratifizierungsprozess zu ziehen sei mehr als russisches Roulette zu spielen: Es käme einem institutionellen Selbstmord der EU gleich.

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Der Geist des Lissabon-Vertrags geht um

In Dublin wird diese Perspektive mit Besorgnis aufgenommen. „Auf ziemlich passende Art und Weise kommt das Gespenst des Lissabon-Vertrages pünktlich zu Halloween zurück“, echauffiert sich der Irish Independent. „Wir werden jawohl hoffentlich nicht das Ganze erneut durchmachen müssen. Indem wir für den Vertrag von Lissabon stimmten, haben wir der Europäischen Union die Macht gegeben, Entscheidungen zu treffen, ohne die Iren um ein Referendum zu bitten, oder?“ Die Tageszeitung fährt fort: „Leider ist das Ganze nicht so einfach wie es aussieht. Wenn die deutsche Kanzlerin vorschlägt, das Wahlrecht eines Landes, das wiederholt die Schulden- und Budgetregeln bricht, zu suspendieren, so steht Irland ganz eindeutig in der Schusslinie. Und die Waffe ist in der Tat geladen.“

„Der Euro und der Krieg“, prangt es weiter auf der Titelseite der Lidové noviny. Die Prager Tageszeitung bemerkt, dass der Euro und seine Rettung die Beziehungen der europäischen Staaten vergiften. Das Gipfeltreffen in Brüssel zeige erneut, dass die Ideen bezüglich der Verwaltung des Euro keinen gemeinsamen Nenner finden und dass sie sogar immer weiter auseinanderdriften, während sich die Mitgliedsstaaten auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene immer weiter voneinander entfernen.

„Der Druck auf die deutsche Kanzlerin wird immer größer, so dass sie bald dazu gezwungen sein wird, den Skeptikern unter den Deutschen zu zeigen, dass ihr Land nicht ewig die Konten verschuldeter Länder auffüllen kann“, räumt Lidové noviny ein. Doch die Zeitung ist davon überzeugt, dass Angela Merkel weiß, dass eine neue Ratifizierung des Vertrages von Lissabon zur Maßregelung zu verschwenderischer Länder „eine reine Utopie ist“. Natürlich könnte Berlin damit drohen, aus dem Euro auszusteigen – und es gab schon Studien zu einem N-Euro, einer neuen Währung für die Länder im Norden, die verantwortungsbewusst mit ihrem Budget umgehen - doch „das könnte nur zum Zusammenbruch der Union führen“, warnt Lidové noviny. (sd)

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