Erweiterung: die große Unlust

Er ist eine Art Jahreszeugnis für Beitrittskandidaten. Doch der EU-Erweiterungsbericht der Europäischen Kommission wird von der europäischen Presse eher mit Müdigkeit aufgenommen.

Veröffentlicht am 10 November 2010 um 15:22

„Die fetten Jahre der EU-Erweiterung sind vorbei“, stellt Les Echos fest. „Dieser Sinneswandel ließ sich am Ton und an der Wortwahl des EU-Kommissars Stefan Füle feststellen, als er am 9. November in Brüssel den jährlichen Erweiterungsbericht vorlegte, der den neun Beitrittskandidaten, Balkanstaaten plus Türkei und Island, gewidmet ist.“

Die Kommission, erklärt das französische Wirtschaftsblatt, „hat den neun Kandidaten, die an die Tür der Union klopfen, wenig vorzuschlagen, abgesehen davon, dass die exjugoslawische Republik Montenegro den Status des Beitrittskandidaten erhält, nicht aber Albanien, von dem man zuerst noch eine Stabilisierung der Institutionen abverlangt, die Rechtsstaat und Demokratie garantieren.“

„Der Beitritt Kroatiens ist in Sicht“, jubelt Vjesnik aus Zagreb. Das regierungsnahe Blatt zitiert Stefan Füle und schreibt, dass „die letzten hundert Meter eines Marathons immer die schwierigsten sind“, insbesondere das Kapitel „Justiz und Bekämpfung der Korruption“, eins der 8 noch nicht abgeschlossenen Kapitel der 33, die der Beitrittsvertrag zählt.

Kroatien kämpft mit Korruption auf höchster Ebene

Brüssel,schreibt der Kollege von Novi List, „erwartet unter anderem, dass Kroatien seine Anstrengungen im Kampf gegen die Korruption auf höchster Ebene intensiviert und zielt damit insbesondere auf die Regierungspartei HDZ, die in Veruntreuungsskandale verstrickt ist, bei denen öffentliche Unternehmen die Parteikassen füllten.“ Die laufenden Ermittlungen betreffen bereits einen Minister sowie den Schatzmeister der HDZ. Der seit 2009 amtierende Regierungschef Ivo Sanadar trat zudem ohne Angabe von Gründen völlig überraschend zurück.

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Abgesehen von Kroatien öffnet die EU den neuen Kleinstaaten am Balkan die Tore nur „vorsichtig und zögernd“, urteilt Rzeczpospolita. Und für die Türkei, die weiterhin „ein enormes Problem für die EU ist“, seien die Aussichten düsterer denn je.

Die türkische Presse verschweigt das Thema quasi gänzlich. Liegt dies daran, dass der 10. November als Todestag Atatürks 10. November 1938) Staatsfeiertag ist und die Gedenkfeiern einen großen Platz in den türkischen Medien einnehmen? Oder zeugt dies vielmehr von einem wachsenden Desinteresse der Menschen gegenüber der EU?

Kurdenproblem in der Türkei - Brüssels Vorwand?

Hürriyet stellt dennoch fest, dass die EU-Kommission Ankara vorwirft, sie bei der Volksabstimmungzur (angenommenen) Verfassungsreform vom 12. September nicht konsultiert zu haben. Die Tageszeitung notiert des Weiteren, dass Brüssel die 10-Prozent-Hürde zum Einzug ins Parlament kritisiere. In keinem anderen EU-Land gebe es ein derart hartes System. Diese Anmerkung fände sich nicht in den Berichten aus den Jahren 2008 und 2009. Dass sie nun wieder anzutreffen sei, zeige sicherlich den Wunsch, ein Hindernis bei der Lösung der Kurdenfrage aus dem Weg zu räumen, analysiert Hürriyet.

Zwischen Brüssel und Ankara, kommentiert La Stampa, „gerät der Dialog nur dem Anschein nach über juristische und politische Fragen ins Stocken: Kurdenproblem, Zwistigkeiten mit Athen, Menschenrechte, religiöse Diskriminierung, Stellung der Frau. In Wirklichkeit sind es Deutschland und Frankreich, die auf die Bremse drücken. Und wenn diese beiden Länder zögern, dann kann niemand viel tun, um das Dossier Türkei wieder auf den rechten Pfad zu bringen.“

Insgesamt sei „die EU der Erweiterung überdrüssig“, betont Gazeta Wyborcza. Das Blatt erklärt diesen Überdruss mit der Wirtschaftskrise und der massiven Einwanderung aus Rumänien und Bulgarien nach dem Beitritt beider Länder 2007. „Frankreich, Deutschland und Österreich zögern, schnell neue Beitrittsländer zu akzeptieren. Im Gegenzug entmutigt die fehlende Aussicht auf einen EU-Beitritt einige Balkan-Regierungen. Sie verlieren ihre Motivation im Kampf gegen Korruption und zeigen sich ungerührt bei Verstößen gegen die Meinungsfreiheit“, betont das Blatt aus Warschau.

Der Jahresbericht - ein leeres Ritual

In diesem Kontext sei „die Präsentation des Zwischenberichts zur Erweiterungsstrategie und zum Stand der EU-Beitrittsverhandlungen seit 2007 zum klischeehaften leeren Ritual geworden“, meint der Standard. „Damals wurde die große ‚Osterweiterung’ mit Rumänien und Bulgarien abgeschlossen. Danach trat Ermüdung ein.“

Es seien, so unterstreicht die österreichische Tageszeitung „als Anwärter Kroatien und die Türkei (neuerdings Island, bald auch Montenegro) übriggeblieben. Denen wurden von der EU-Kommission stets einige kleine Fortschritte, aber auch noch viele ungelöste politische und wirtschaftliche Probleme auf dem Weg nach Europa attestiert. So läuft das seit Jahren: Nach jedem Bericht entspann sich in der Öffentlichkeit eine wilde bis polemische Debatte um die Türkei.“

Zwischen jenen, die eine türkischen EU-Beitritt ablehnen oder befürworten sei „nur wenig Platz für Differenzierung. Schade.“, bedauert der Standard. „Die Polemik mit und um Ankara deckt zu, dass es im näherliegenden Erweiterungsgebiet der Union, im Balkan, die viel größeren Fortschritte gibt. ... Das alles ist besonders für Österreich wichtig. Wir sollten weniger über die Türkei streiten und mehr über die Vorbereitung auf eine Zeit reden, in der alle Kleinstaaten am Balkan zur EU gehören — vermutlich früher als die Türkei.“ (js)

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