Die große Depression

Die europäischen Staats- und Regierungschefs finden keinen Ausweg aus dem Teufelskreis zwischen Rezession und Arbeitslosigkeit. Und das, obwohl immer mehr Stimmen laut werden, die das Ende der von Europa und allen voran Deutschland gepredigten Sparmaßnahmen fordern. Die EU verliert währenddessen in der Welt an Bedeutung.

Veröffentlicht am 3 Juni 2013 um 12:18

Europas Staats- und Regierungschefs beherrschen eines ganz besonders gut: Neue Gesetze einführen. Geht es aber darum, Auswege aus der Wirtschaftskrise zu finden, so ist festzuhalten: Sie haben seit Jahren versagt. Die kürzliche Bekanntgabe der Wachstumszahlen durch Eurostat klang wie die Verlesung eines Todesurteils: Europa, Du steuerst mit Hochgeschwindigkeit auf den Abgrund zu und [Deine] Bremsen haben ihren Geist schon vor einer ganzen Weile aufgegeben. In den ersten drei Monaten des Jahres 2013 schrumpfte die Wirtschaftsleistung der Eurozone im Vergleich zum Vorjahr um ein Prozent. Die der EU ging um 0,7 Prozent zurück.

Faktisch schreiben alle rote Zahlen: In Griechenland schrumpfte der Wert um 5,3 Prozent, in Zypern um 4,1 Prozent, in Portugal um 3,9 Prozent, in Italien um 2,3 Prozent und in Spanien um 2 Prozent. Auch Finnland und die Niederlande verzeichneten eine negative Wachstumsrate. Diejenige Österreichs stagnierte. Frankreich befindet sich nun ganz offiziell in einer Rezession. Deutschlands Wachstumsrate fiel positiv aus, aber auch nur, wenn man die jeweiligen Quartale miteinander vergleicht. [Kurzum:] Weit und breit herrscht Verzweiflung und Not.

Die USA machen es vor

Während Europa seine Zähne zusammenbeißt und Tränen kullern, haben andere die gefährlichen Klippen bereits umschifft. Die Vereinigten Staaten von Amerika beispielsweise. Dabei hat die weltweite Krise doch gerade dort ihren Ursprung. Und genau deshalb stellten viele europäische Politiker die USA in den letzten Jahren auch an den Pranger und machten die Habsucht und Verantwortungslosigkeit der amerikanischen Banken [für das Chaos] verantwortlich. Heutzutage wächst die Wirtschaft der Vereinigten Staaten aber wieder, während das Wachstum Europas weiter schrumpft. Wie unfair!

Im ersten Quartal 2013 ist das Wirtschaftswachstum der USA um 2,5 Prozent gestiegen. Die Arbeitslosenzahlen waren so niedrig wie seit vier Jahren nicht mehr. Und am Wertpapiermarkt ging es ganz besonders eifrig zur Sache. Von jeher hatte die Europäische Union auf die USA, ihren Raubtierkapitalismus und ihre sozialen Ungerechtigkeiten herabgeschaut. Dafür brüstete sich Europa mit seiner „Sozialen Marktwirtschaft“, die ihre Arbeiter schützt und ihnen allerlei sympathische Rechte einräumt.

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In den letzten Jahren waren es vor allem Europäer, die den Amerikanern gönnerhaft weismachen wollten, wie sie ihre Wirtschaft wiederbeleben könnten. Nun haben sie die Rollen getauscht. In einem kürzlich geführten Interview mit der spanischen Wirtschaftstageszeitung El Economista schlug ein hochrangiger Beamter des US-Finanzministeriums vor, dass die EU sich am amerikanischen Beispiel orientieren sollte. Anstatt sich hartnäckig an das Sparsamkeits-Dogma und die Rückführung des Haushaltsdefizits zu klammern, sollte [der alte Kontinent] vielmehr seine Märkte stimulieren.

Respekt für Sparer

Interessanterweise sind viele Politiker in Europa genau der gleichen Meinung. Und dennoch scheint keiner von ihnen bereit zu sein, mit der Faust auf den Tisch zu hauen und sich Berlin zu widersetzen. [Für die Deutschen] bedeuten Maßnahmen zur „Ankurbelung der Nachfrage“ nämlich [einerseits] höhere Inflationsraten (und genau diese sind seit der Hyper-Inflation während der Weimarer Republik ein absolutes Tabu); [andererseits] zusätzliche Transfers deutscher Steuergelder in haushaltsschwache Länder wie Griechenland oder Spanien.

Folglich wird erwartet, dass die südlichen Länder den Gürtel enger schnallen und sich ruhig verhalten. Die Kluft zwischen Deutschland und den verschuldeten EU-Mitgliedsstaaten im Süden macht sich bereits auf der sprachlichen Ebene bemerkbar: In Irland heißt das Ganze „austerity“, in Italien „austerità“, in Frankreich „austerité“ und stammt von dem lateinischen Wort „austerus“ ab, das so viel bedeutet wie „konsequent, streng, enthaltsam“. Ein ganz eindeutig unangenehm konnotiertes Wort. In Deutschland verwendet man dagegen den Begriff “Sparkurs“. Etwas, das ganz offensichtlich vernünftig, sinnvoll und gesund ist. Wenn Sie es in Deutschland schaffen, erfolgreich hauszuhalten, werden Sie schließlich mit größtmöglichem Respekt behandelt.

„Die Politik in Berlin gründet nicht ausschließlich auf Pragmatismus, sondern auch auf grundlegenden Werten“, erklärte der angesehene deutsche Soziologe Ulrich Beck in einem Interview. „Wenn man Einwände gegen Länder erhebt, die sich verausgaben, dann ist das eine Frage der Moral. Vom soziologischen Standpunkt aus betrachtet liegen die Wurzeln einer solchen Position in der protestantischen Ethik. Aber natürlich ist all das auch eine Frage der ökonomischen Zweckrationalität. So nimmt die Bundesregierung die Rolle des Lehrers ein, der den südlichen Ländern beibringt, wie sie ihre Wirtschaftssysteme reformieren sollen.“(*)

Briefe an Angela Merkel

Nun ist es aber so, dass dieser Lehrer nicht besonders beliebt ist. Und diese [Unbeliebtheit] geht sogar so weit, dass Deutschland beim letzten Eurovision Song Contest [in Malmö] eine demütigende Niederlage erleiden musste: Natalie Horler schaffte es mit Glorious gerade mal auf Platz 21 von 26 Teilnehmern insgesamt. Die Kommentatoren des deutschen Fernsehsenders ZDF zweifelten nicht lange: „In Europa mag uns einfach niemand mehr“. Und vermutlich liegen sie damit gar nicht so falsch.

Bilder von Angela Merkel in SS-Uniform auf den Titelseiten abzudrucken gehört für griechische Boulevardblätter inzwischen schon zum Alltag dazu. Aber es gibt auch noch etwas ganz anderes, das in Mode gekommen ist: Angela Merkel Briefe zu schreiben. Darin bitten Politiker aus bestimmten Ländern die Bundeskanzlerin, ihnen nicht so viele Tests und Prüfungen aufzubürden. Sie flehen um Verständnis und Nachsicht. Allerdings hindert sie das nicht daran, anzudeuten, dass [Merkel] all das nur tut, um ihre Chancen bei der Bundestagswahl zu verbessern, die im September stattfinden wird.

Frau Merkel ist nicht bereit, einen sanfteren „Sparkurs“ einzuschlagen. Schließlich könnte sie das in Deutschland Wählerstimmen kosten. Der Abgeordnete der Sozialdemokratische Partei Portugals, Duarte Marques, schrieb in einem Brief an die deutsche Regierungschefin: „Deutschland verschließt bewusst die Augen vor den wirklichen Folgen der Sparpolitik. Diese [Realitätsverweigerung] ist Ausdruck eines Opportunismus, dem man bei deutschen Eliten bisher nur äußerst selten begegnete. Darüber hinaus ist [all das] einfach unwürdig für ein Land, das unter Helmut Kohl einst den Mut aufbrachte, die Verantwortung für Europa zu übernehmen – auch wenn es sich damit so manches Mal gegen seine eigene Öffentlichkeit stellte. Herr Kohl gehörte dieser Generation von Staatsmännern an, die es heutzutage in Europa kaum noch gibt.“

Böse und weniger wert als Helmut Kohl

„Naja“, würde Frau Merkel da sicher denken: „Ich bin also nicht nur ein gemeiner Mensch, sondern auch noch weniger wert als Helmut Kohl. Großartig.“ Briefe wie diese können Berlin nur reizen und es dazu bringen, seinen Standpunkt noch verbissener zu verteidigen. Die Idee eines Deutschlands, dass die „Verantwortung für Europa übernimmt“ wird in Berlin grundsätzlich wie folgt interpretiert: „Deutschland sollte uns mehr Geld geben“.

Genau das wird es aber nicht tun. Weder Portugal noch Griechenland noch irgendeinem anderen [Land]. Allerdings führte der von Frau Merkel so hochgelobte „Sparkurs“ bisher auch noch nicht zu den erwarteten Ergebnissen. Eine portugiesische Zeitung veröffentlichte jüngst einen Vergleich der Wirtschaftsindikatoren von heute mit denen vor zwei Jahren, als Portugal sich in den zärtlichen Fängen der Troika wiederfand und gezwungen war, Sparmaßnahmen zu ergreifen. Die Ergebnisse sprechen Bände: Die Arbeitslosigkeitsrate stieg von 12,9 Prozent auf 18,2 Prozent. Das Haushaltsdefizit von 4,4 Prozent auf 5,5 Prozent des BIP, und die Staatsverschuldung von 106 Prozent auf 123 Prozent des BIP. Insgesamt hat sich eigentlich kaum etwas verbessert.

Nichts wie raus aus dem Schlamassel

Kein Wunder also, dass geschätzte 240.000 Menschen, also 2,5 Prozent der Bevölkerung, Portugal seit 2011 verlassen haben. Der portugiesische Fernsehsender RTP strahlte vor Kurzem eine Reportage über portugiesische Gastarbeiter in Großbritannien aus. Darin erzählten ein Architekt, ein Zahnarzt, sowie zwei männliche und zwei weibliche Krankenpfleger, wie glücklich sie sind, es aus diesem Schlamassel herausgeschafft zu haben. Eine der jungen Frauen schien die Aussicht, in einem Krankenhaus in Northampton nördlich von London arbeiten zu können, so sehr zu begeistern, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes vor der Kamera auf und niedersprang. Keiner von ihnen denkt daran, in die Heimat zurückzukehren. Irgendjemand sagt sich bestimmt: „Vielleicht eines Tages“.

Ein im Rahmen der Reportage befragter Soziologe erklärte, dass viele junge Menschen unter Depressionen leiden und nicht nur die Auswandererwelle in Richtung Großbritannien immer mehr anschwillt, sondern sich auch immer mehr Menschen Portugals frühere Kolonien zum Ziel gesetzt haben: Brasilien und Angola. So scheint es längst nicht mehr unvorstellbar, dass es in der Eurozone bald Werbeplakate gibt, auf denen stehen wird: „Wir besorgen Ihnen einen Job. In Rio de Janeiro.“

Einprägsam, nicht wahr?

(*) Der Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen. Deutsche Zitate wurden ins Deutsche rückübersetzt und geben dementsprechend nicht den Wortlaut der Zitierten wieder. — A.d.R.

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