Demonstanten fordern die nationale Personenregisternummer (JMB) vor dem Parlament. Sarajevo, 11. Juni 2013

Die Baby-Revolution

Aufgrund eines Rechtsvakuums, das die Regierung einfach nicht füllt, durfte ein schwerkrankes Baby nicht ausreisen. Der Fall sorgte für eine beispiellose Protestwelle, die erstmals sogar die ethnischen Grenzen überwindet.

Veröffentlicht am 20 Juni 2013 um 11:28
Luca Bonacini  | Demonstanten fordern die nationale Personenregisternummer (JMB) vor dem Parlament. Sarajevo, 11. Juni 2013

Druck von unten und politische Willensstärke von oben: Vielleicht ist das die Lösung für die bosnische Quadratur des Kreises. Würde sich die jüngst in Bosnien-Herzegowina entstandene Protestbewegung der Bürger mit einer positiven Entwicklung in der Region verbinden, könnte dies entscheidende Veränderungen im ganzen Land hervorrufen. [Zur Erinnerung: Bosnien-Herzegowina] ist der Nachfolgestaat des ehemaligen Jugoslawiens, in dem die Situation ganz besonders kompliziert ist. [Bosnien-Herzegowina setzt sich aus der Bosniakisch-Kroatischen Föderation und der Serbischen Republik Bosniens (Republika Srpska) zusammen und folgt dem Organisationsprinzip der ethnischen Unterschiede.]

Anfang Juni gingen mehrere Hundert Bürger Sarajevos auf die Straße, um ihre Unzufriedenheit mit den Absurditäten zum Ausdruck zu bringen, die das Abkommen von Dayton schuf. [1995 beendete es den Krieg in Bosnien und Herzegowina und setzte die ethnische Teilung durch.] In diesem Kontext brachte der Fall des kranken Babys das Fass zum Überlaufen. Die kleine Belmina Ibrisevic konnte nicht zur medizinischen Behandlung nach Deutschland reisen, weil es die Politiker ihres Landes einfach nicht schafften, sich auf eine Lösung des Personenregisternummer-Problems zu einigen. Und ohne diese Nummer konnte ihr nun einmal kein Reisepass ausgestellt werden.

„Bébolution“ ist in aller Munde

Seit dem 12. Februar hat kein einziges Neugeborenes eine behördliche Personenregisternummer erhalten. Als Zeichen des Protests kamen die Menschen vor dem Parlament der Zentralregierung zusammen, das sich an diesem Tag versammelte. Sie kreisten die Parlamentarier ein und zwangen sie, dem kranken Kind im Eilverfahren einen Reisepass auszustellen. Seitdem ist der Begriff „Bébolution“ (Baby-Revolution) im ganzen Land in aller Munde. Ab dem 11. Juni hielten zehntausende Personen den Verkehr in Sarajevo auf und forderten eine Lösung des Problems der Personenregisternummern, aber auch ganz allgemein der Europäisierung des Landes.

In Banja Luka [dem Regierungssitz der Serbischen Republik Bosniens] sind Studenten auf die Straße gegangen, um ihre Rechte zu verteidigen – obwohl man ihre Demonstration verboten hatte. Zudem protestierten Studenten in Mostar. In einem ethnisch tief gespaltenen Land erblickt gerade eine Bürgerbewegung das Licht der Welt.

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Gleichzeitig finden beim Nachbarn Bosnien-Herzegowinas historisch bedeutsame Veränderungen statt: Während Kroatien sich anschickt, der Europäischen Union beizutreten [ab 1. Juli wird es EU-Mitglied sein], nehmen die serbischen Führungskräfte vom Projekt Großserbien Abstand. Mit ihrer Unterschrift unter das Normalisierungsabkommen mit Kosovo haben die nationalistischen Kräfte in Belgrad einen riesigen Schritt nach vorn gemacht.

Auf dem Weg nach Europa

Serbiens Präsident Tomislav Nikolic, der in den 1990er Jahren die rechte Hand des [Ultranationalisten und Anführers der Serbischen Radikalen Partei] Vojislav Seselj war, [der derzeit vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag gerichtet wird], ist heute damit beschäftigt, Serbien auf dem Weg nach Europa weiterzubringen. Dies ist zweifelsohne der wichtigste politische Wandel, den das ehemalige Jugoslawien innerhalb der letzten zwanzig Jahre erlebt hat – und obendrein ein Zeichen der Hoffnung für Bosnien-Herzegowina.

Sollte der Reisepass für Belmina Ibrisevic [dem drei Monate alten Baby, das eine Operation im Ausland gebraucht hätte, aber nicht aus Bosnien-Herzegowina ausreisen durfte, weil es keinen Reisepass hatte, und letztendlich am 16. Juni starb] bei den Bosniern den Eindruck erweckt haben, dass sie die Möglichkeit besitzen, etwas zu bewegen, und sollte der Druck der Bürger anhalten, werden die Politiker vielleicht verstehen, dass es ihren Interessen dient, wenn sie sich zusammenraufen, anstatt zur Zersetzung des Landes beizutragen. Allerdings haben die wichtigsten Parteien der Serben und der Kroaten – die Allianz der Unabhängigen Sozialdemokraten (SNSD) und die Kroatische Demokratische Union in Bosnien und Herzegowina (HDZ BiH) – unterdessen keine Gelegenheit ausgelassen, um die gemeinsamen Institutionen zu untergraben. Sie kündigten an, „aufgrund der Demonstrationen in Sarajevo und der damit verbundenen Sicherheitsprobleme“ in Zukunft nicht mehr in Sarajevo tagen zu wollen.

Kroatien spielt eine wichtige Rolle

Wenn es Nikolic aber gelingen würde, [den Regierungschef der Serbischen Republik Bosniens,] Milorad Dodik, davon zu überzeugen, dass er den Weg nach Europa nur dann gehen kann, wenn er auch weiterhin die gemeinsame Fahne Bosnien-Herzegowinas hochhält – zumal dies nach dem Kosovo die Bedingung sein wird, die Serbien für seine europäische Integration erfüllen muss –, könnte man der anti-bosnischen Politik der Serbischen Republik einen Strich durch die Rechnung machen.

An dieser Überzeugungsarbeit muss sich auch Kroatien ernsthaft beteiligen. Insbesondere seit die Anführer der HDZ BiH den bosnisch-serbischen Abgeordneten nacheifern und bekanntgaben, dass auch sie nicht mehr in Sarajevo tagen werden. Zagreb muss den Druck auf die HDZ BiH aufrechterhalten. Als neues Mitglied der Europäischen Union muss Kroatien zeigen, wie es Europa weiterbringen kann, anstatt tatenlos dabei zuzusehen, wie seine Nachbarn ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine werfen.

Aus Sicht Sarajevos

Die internationale Gemeinschaft auf Seite der Demonstranten

In den Augen der Tageszeitung Dnevni Avaz haben die Vertreter der internationalen Gemeinschaft, die „in Bosnien-Herzegowina sonst eigentlich immer alles entschieden“, bewusst beschlossen, „nicht in das lächerliche Wirrwarr einzugreifen, mit dem die Lokalpolitiker das Leben von Neugeborenen gefährdeten, indem sie die Vergabe nationaler Personenregisternummern verhinderten“.

Laut der Tageszeitung aus Sarajevo haben das Büro des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina und der Rat für die Umsetzung des Friedens (PIC) ganz im Gegenteil „entschieden, auf den Protest der Bürger zu setzen, der sich in ganz Sarajevo ausbreitet und sowohl die Fahrlässigkeit und Straflosigkeit der Politiker anprangert“, als auch auf „die Studentenproteste in Banja Lunka“ zu vertrauen.

Der Grund: Sie haben „in diesen Bürgerbewegungen eine Kraft erkannt, die den nötigen Druck auf die Führungskräfte ausüben“ könnte. Dementsprechend war der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, laut Zeitungsberichten

der erste, der die Aufstände gegen die Führungselite unterstützte. [...] Ferner brachte der britische Botschafter in Sarajevo seine Sympathie mit den Demonstranten zum Ausdruck. Daraufhin nutzte auch der Botschafter der Vereinigten Staaten die Gunst der Stunde und rief die bosnischen Bürger im Internet im Namen der USA dazu auf, ihren Behörden gegenüber noch kritischer zu sein. [...] Unterdessen lösen unsere Politiker bei den Bürgern nur Verachtung, Abscheu, Wut und Verzweiflung aus.

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