Gegen ein Europa der Fronten

Der Aufbau einer lateinischen Front, die dem mächtigen Nachbarn im Norden unter der Leitung Deutschlands die Stirn bieten kann, wäre eine grob vereinfachende Lösung angesichts der Krise und beruht auf dem Nationalbewusstsein des alten Europas, meint Schriftsteller Javier Cercas.

Veröffentlicht am 4 Juli 2013 um 12:01

Die Euroskepsis zerfrisst Europa. In Großbritannien verspricht David Cameron seinen Mitbürgern, 2017 eine Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft durchzuführen. In Italien schlägt Beppe Grillo vor, den Euro abzuschaffen. In Frankreich verlangt Jean-Marie Le Pen ein Referendum über den Ausstieg aus der EU und der Einheitswährung.

Auch in Ländern wie Spanien – bis vor kurzem noch überzeugte Verfechter des Europagedankens – schwindet der Glaube an die Vorteile eines vereinigten Europas. Wir könnten nun darüber diskutieren, ob die Europäer vom Konzept des vereinigten Europas als solchem oder von der Art, wie sich Europa vereinigt, enttäuscht sind.

Fakt ist, dass das Phänomen existiert und um sich greift. Es ist kaum zu glauben: Vor wenig mehr als einem Jahrzehnt, als wir den Euro einführten und die Wirtschaftskrise sich noch nicht einmal am Horizont abzeichnete, zweifelte niemand daran, dass sich die EU als die große Macht des 21. Jahrhunderts profilieren würde. Alle wollten ihr beitreten. Heute beobachten wir genau das Gegenteil.

Wirtschaftskrise zerstört die politische Idee Europas

Die Wirtschaftskrise könnte die beste politische Idee zerstören, die wir jemals in Europa hatten. Die Krise mag zwar nicht (nur) wirtschaftlich, sondern vor allem politisch bedingt sein, aber sie ist vor allem ursprünglich keine europäische Krise. Wesentlich ist jedoch, dass immer mehr Europäer die europäische Union für die Krise verantwortlich machen.

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Irgendwie ist es logisch: Nichts ist einfacher, als jemand anders die Schuld an seinem eigenen Unglück zuzuweisen. So wie die Katalanen entdeckt haben, dass es fabelhaft ist, Spanien alles Schlechte in die Schuhe zu schieben (damit wir selbst die Verantwortung nicht zu übernehmen brauchen), so haben auch die Europäer entdeckt, dass es fabelhaft ist, das vereinigte Europa zum Sündenbock zu machen.

Angesichts dieser Lage versuchen einige kluge Köpfe, Alternativen zur aktuellen EU zu finden. Der letzte (oder vorletzte), der das tat, war der italienische Philosoph Giorgio Agamben. In einem Artikel in La Repubblica beklagte Agamben, die gegenwärtige EU beruhe auf einem rein wirtschaftlichen Fundament, das die kulturellen Verwandtschaftsverhältnisse nicht berücksichtigt.

Heute stellt sich heraus, wie labil diese Konstruktion ist, vor allem aus ökonomischer Sicht: Die angebliche Einheit hat letztendlich nur die Unterschiede akzentuiert und einer ärmeren Mehrheit die Interessen einer reicheren Minderheit aufgezwungen, die allzu oft mit jenen einer einzigen Nation (Deutschland) übereinstimmen.

Nationalismus als vergessene Gefahr

Auf der Suche nach einer Alternative stieß Giorgio Agamben auf die Idee eines lateinischen Reichs unter der Leitung Frankreichs, die der französische Philosoph Alexandre Kojève 1947 entwickelte. Diese Gemeinschaft sollte die drei größten romanische Sprachen sprechende Staaten (Frankreich, Italien und Spanien), die in Bezug auf Lebensführung, Kultur und Religion verwandt sind, politisch und wirtschaftlich vereinen.

So schreibt Agamben: „Nicht nur ergibt es keinen Sinn, von einem Griechen oder einem Italiener verlangen zu wollen, dass er wie ein Deutscher lebt, doch selbst wenn das möglich wäre, würde es zum Verschwinden eines Kulturguts führen, das vor allem in einer Lebensform liegt.“

Agambens Diagnose scheint mir zum Teil richtig zu sein, die von ihm vorgeschlagene Lösung ist jedoch völlig falsch. Es stimmt, dass es letztendlich ungerecht wäre, wenn Deutschland uns ein Europa aufzwingt, das ausschließlich seinen eigenen Interessen entspricht.

Aber erstens sehe ich nicht, was genau wir lösen, wenn wir einerseits ein vereinigtes armes Europa unter der Leitung Frankreichs und andererseits ein vereinigtes reiches Europa unter der Leitung Deutschlands aufbauen, besonders wenn wir berücksichtigen, dass das größte Unheil, das Europa in jüngster Zeit befallen hat, aus der Konfrontation zwischen Frankreich und Deutschland entstand.
Zweitens ist es absurd zu denken, das arme und anfällige lateinische Europa könnte sich und seine demokratischen Systeme gegen die maßlos gefräßigen Finanzmärkte verteidigen, obwohl es in Wirklichkeit nicht einmal in der Lage ist, sich vor dem reichen und deutschen Europa zu schützen. (Übrigens ist es ebenso absurd zu glauben, eine der beiden Fronten könnte ganz allein gegen China oder Indien kämpfen und verhindern, dass Europa auf ein unbedeutendes Nichts reduziert wird.)

Schließlich könnten die Basken und Lombarden in diesem hypothetischen lateinischem Europa beschließen, dass sie keine Lust haben, wie die Spanier und Italiener zu leben und ihre kulturellen Eigenheiten aufzugeben. Wäre es nicht gerade eine der wesentlichsten Stärken eines vereinigten Europas, eine politische und wirtschaftliche Union ohne Verlust der kulturellen Vielfalt auf den Weg zu bringen, ohne dass jemand dazu gezwungen ist, sein Leben anders als gewohnt zu leben?

Vergisst Agamben in seiner Lösung nicht den Erzfeind Europas, den Nationalismus? Ist das neue Europa Agambens nicht schlicht und einfach das alte Europa, das wir so gut kennen?

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