Unser Blick auf die Tatsachen ist verzerrt

Eine offizielle Umfrage zeigt, dass britische Bürger in praktisch allen umstrittenen sozialen Fragen eine unrealistische Sichtweise haben. Dazu gehören Immigration, Kriminalität und Sozialleistungen. Vielleicht kommt das deshalb, weil ihnen die Politiker und die Medien eine so angsterfüllte und enge Sicht ihrer Gesellschaft vermitteln.

Veröffentlicht am 11 Juli 2013 um 15:47

Eine Umfrage der Royal Statistical Society enthüllte heute am 9. Juli das große Missverhältnis zwischen dem, was die britische Öffentlichkeit für den Stand der Nation hält, und der eigentlichen Realität, wie sie die nüchternen offiziellen Zahlen reflektieren.Es überrascht vielleicht nicht, dass die Leute gewisse Themen manchmal ziemlich verquer einschätzen, doch die Kluft zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit ist erstaunlich groß. Die Konsequenzen für Politik und Staatsführung sind erheblich.

Um nur zwei Feststellungen der Umfrage zu nennen: Wir halten die Schwangerschaftsrate bei Teenagern für 25 Mal höher als sie tatsächlich ist, und die Öffentlichkeit glaubt zum Großteil, dass die Kriminalität konstant bleibt oder zunimmt, während offizielle Zahlen zeigen, dass es im Jahr 2012 53 Prozent weniger Zwischenfälle gab als im Jahr 1995. Die Bürger überschätzen den Umfang des Sozialleistungsbetrugs um das 34-fache und glauben, dass er 24 Prozent der gesamten Sozialleistungen ausmacht. In Wirklichkeit beträgt er nur 0,7 Prozent.

Als die Leute aus einer Liste aussuchen sollten, welche politische Strategie wohl am meisten Geld sparen würde, wählten ein Drittel von ihnen eine Beschränkung der Sozialleistungen auf 26.000 Pfund. Nicht einmal halb so viele entschieden sich für die Erhöhung des Rentenalters auf 66 Jahre für Männer wie für Frauen. Tatsächlich würde eine Begrenzung der Sozialleistungen 290 Millionen Pfund einsparen. Die Ersparnisse durch eine Erhöhung des Rentenalters lägen jedoch bei fünf Milliarden Pfund, also rund 20 Mal so viel.

Mehr als ein Viertel der Leute glauben, die Auslandshilfe gehöre zu den größten zwei oder drei Ausgabenposten der Regierung. Es setzten sie sogar mehr Befragte an die Nummer Eins der Staatsausgaben als Renten oder Bildung, obwohl letztere 74 bzw. 51 Mal höher sind. Der Durchschnittsbürger glaubt, 24 Prozent der britischen Bevölkerung seien Muslime. In Wirklichkeit sind es fünf Prozent. Durchschnittliche Schätzungen der Migrantenzahlen insgesamt liegen zwei bis drei Mal höher als die wirklichen Zahlen.

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Volkskrankheit Zynismus

Es ist verlockend, dies auf die unverfrorene Verlogenheit der Politiker und der Medien zurückzuführen - in den einprägsamen Worten des amerikanischen Autors und späteren Senators Al Franken: „Lügen der lügenden Lügner“. Es besteht beileibe kein Mangel an Beispielen.

Minister wie Iain Duncan Smith und Jeremy Hunt - ganz zu schweigen von Harriet Harman vor ihnen - wurden wiederholt von ihren eigenen Statistik-Behörden zurechtgewiesen, weil sie falsche oder irreführende statistische Behauptungen anführten. Unterdessen werden faktenprüfende Websites wie Full Fact durch die vielfachen Versäumnisse der Journalisten in der Presse und den audiovisuellen Medien täglich auf Trab gehalten.

Das ist allerdings nur ein kleiner Teil des Problems. Die Öffentlichkeit hat unter anderem schon lange aufgegeben, auch nur ein Wort von dem zu glauben, was über die Lippen eines Politikers kommt. Darin liegt vielleicht eine wichtige Ursache des Problems. Zynismus über Wirtschaftszahlen oder Verbrechensstatistiken ist eine Volkskrankheit, und dies aus gutem Grund. Doch das Gift ist inzwischen so weit verbreitet, dass sogar verlässliche, bedeutsame Untersuchungsergebnisse so betrachtet werden, als kämen sie direkt aus dem Büro von Walter Mitty [„Das Doppelleben des Herrn Mitty“, Film von 1947 mit Danny Kaye].

Das eigentliche Problem ist nicht die Unehrlichkeit, sondern die Unterlassung. Nachrichtenreporter berichten über brutale Verbrechen oder Sozialleistungsbetrug, ohne auch nur zu versuchen, einen Kontext oder einen Maßstab dazu zu geben - und verantwortlich sind da nicht nur die rechtslastigen Boulevardblätter.

So berichten etwa liberale und linksliberale Medien über furchterregend hohe Zahlen von Fällen häuslicher Gewalt, ohne jemals zu erwähnen, dass die Zahlen - so schrecklich die Fälle auch sind - in den letzten 20 Jahren um 69 Prozent zurückgegangen sind.

Öffentliche Leichtgläubigkeit

Die Statistiker der RSS verlangen natürlich eine bessere Aufklärung der Öffentlichkeit in puncto Statistik, insbesondere in den Schulen. Dies wäre zwar an sich durchaus lobenswert, doch ich bin nicht sicher, dass es den Kern der Sache angreift. Es geht ja nicht darum, dass die Öffentlichkeit den Unterschied zwischen einem Median- und einem Durchschnittswert nicht kennt, oder dass sie meint, ein Vertrauensintervall sei etwas, das sich Andy Murray zwischen zwei Spielen gönnt.

Es geht darum, dass man ihnen die Statistiken gar nicht erst mitteilt. Folglich bilden sich unsere Eindrücke der Gesellschaft dadurch, dass wir einzelne Halbwahrheiten und Schauergeschichten wie durch ein langes, dünnes Rohr sehen, immer nur einen Schnappschuss statt des vollen Panoramas. Wir sind dann auf unsere kognitive Verzerrung und Heuristik angewiesen, um die gähnenden Lücken zu füllen.

Es fehlt hier nicht an einer besseren Kenntnis der Statistik, sondern an einer besseren Kenntnis der Medienkunde und der Politikwissenschaft. Politiker und Medien bejammern regelmäßig den Zynismus der Öffentlichkeit und eine weit verbreitete Losgelöstheit von den aktuellen Themen. Die heutige Umfrage ist eine Erinnerung daran, dass die Öffentlichkeit in Wirklichkeit noch lange nicht zynisch genug ist.

Die öffentliche Leichtgläubigkeit ist das Problem, nicht die Skepsis. Wenn die politischen Klassen wirklich wollen, dass sich die Briten wieder mit der Demokratie beschäftigen, dann ist der erste Schritt ganz offensichtlich: Fangt an, uns die Wahrheit zu sagen, und zwar die ganze Wahrheit!

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