Nachrichten Demonstrationen in Bulgarien
Polizei und Demonstranten stehen sich vor dem Bus gegenüber, mit dem die Abgeordneten das Parlament verlassen wollen, Sofia, 23. Juli.

Eine Macht ohne Grundlage

Zwischen 2000 und 3000 Personen haben am 23. Juli das bulgarische Parlament eingekesselt. Minister und Abgeordnete saßen fest, bis die Polizei die Demonstranten gewaltsam auseinander trieb. 40 Tage nach Beginn der Proteste scheint die Regierung sich immer mehr von den Menschen in ihrem Land zu entfernen.

Veröffentlicht am 24 Juli 2013 um 15:23
Polizei und Demonstranten stehen sich vor dem Bus gegenüber, mit dem die Abgeordneten das Parlament verlassen wollen, Sofia, 23. Juli.

Die Machthaber kapseln sich ab. Die Barrikaden rund um die Nationalversammlung und der Polizeikordon vor dem Gebäude bringen uns in die Zeiten des Falls des Kommunismus und die Krisenperioden Bulgariens zurück. Das Projekt der Kommunisten, manisch und paranoid, lebte in der Überzeugung, dass jemand ihnen die Macht nehmen wollte, die man selbst mit Blut und Gewalt an sich gerissen hatte. Dennoch war es ein expansionistisches Projekt: Man versuchte die Massen zu kontrollieren und zu führen, man organisierte Arbeiterdemonstrationen, mit denen man die Einheit der Nation und der Partei zelebrierte.

Heute befindet sich die Macht wieder in den Händen der „Nachkommen des Politbüros“, doch der Anblick ist ein ganz anderer. In erster Linie sieht man eine Isolation, ein Regieren mittels Einschüchterung, eine ruchlose Opazität. Eine Macht hinter Barrikaden. [[Sie „barrikadieren sich vor den Bürgern“]], wie man auf einem Transparent lesen konnte.

Vor dem Sitz des Staatspräsidenten hingegen hat es nie Barrikaden gegeben. Als ob Präsident Plewneliew [der Partei „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“, GERB] von den Demonstranten nichts zu befürchten hätte. Es herrscht eine anonyme Macht, die schnell und ohne Transparenz entscheidet, und die sich erleichtert fühlt, wieder eine weitere Nacht überlebt zu haben. Eine Macht, die auf höchst undurchsichtige Weise Gouverneure und hohe Staatsdiener ernennt.

Eine Zeit wie vor dem Mauerfall

Die Regierung, die in nebulösen Verhandlungen zweier Parteien zustande kam, tut so, als besitze sie irgendeine politische Existenz und versucht dem barrikadierten Parlament Entscheidungen mit kurz- oder langfristigen Folgen aufzuzwingen. Anstrengungen, die von den Demonstrationen und der politischen Instabilität zunichte gemacht worden sind.

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Tatsache ist, weit über den Zustand des politischen Personals Bulgariens und der Unzufriedenheit der Bevölkerung hinaus, dass die bulgarische Politik nicht den großen Ideen des 19. Jahrhundert entwachsen ist. Oder sich heute bestenfalls in einer Periode vergleichbar mit jener vor dem Mauerfall befindet.

Öffnet man die Augen, stellt man fest, dass [der seit dem 29. Mai 2013 regierende sozialistische] Ministerpräsident Plamen Orescharski die Maske des Monarchen trägt. Er will sich als Souverän ans Volk wenden, überzeugt davon, dass die Gesellschaft ohne zu murren alle Handlungen und Ernennungen hinzunehmen hat. Was weder die Sozialistische Partei noch ihre Verbündeten begreifen, ist, dass sich mit der Globalisierung und der aufsteigenden Informationsgesellschaft die politische Bühne verändert hat. Nicht nur in Bulgarien, in der ganzen Welt, selbst in der Türkei und in Ägypten. [[Heutzutage sind Minister und Angeordnete nicht mehr Autoritätspersonen, sondern Produkte für den Massenkonsum]]: Die Gesellschaft erwartet, dass sie ununterbrochen erklären, oder aber sie werden von der politischen Bühne verjagt.

Eine neue Form der Transparenz

Eine Situation, die auftritt, da sich die Kräfteverhältnisse verschieben, denn ein neues Kontrollorgan weitet sich aus: Internet und die sozialen Netzwerke. Dort entwickelt sich eine neue Form der demokratischen Transparenz. Die Menschen in aller Welt geben sich nicht mehr mit der Rolle des Wählers zufrieden, der sich alle vier Jahre zur Urne begibt, während den Rest der Zeit andere über ihr Schicksal bestimmen. Eine neue Form der Bürgerbeteiligung ist im Entstehen, und sie wird in der Lage sein zu verhindern, dass sich verhängnisvolle Entscheidungen, welcher Regierung auch immer, wiederholen.

Heute geht es darum, neue, vernetzte Strukturen der Bürgerbeteiligung zu schaffen, welche wahrscheinlich auch die traditionellen Parteien von innen verändern werden. Die neue Form der Demokratie, die in den sozialen Netzwerken entsteht, könnte fähig sein, den Status quo des Klientelismus und der Vetternwirtschaft — welcher den Sozialisten und Partnern so am Herzen liegt — endlich zu durchbrechen. Ebenso den politischen Feudalismus und alle Praktiken, die damit einhergehen wie beispielsweise der Stimmenkauf. Es geht um die Bildung einer neuen Souveränität, unten mittels Dezentralisierung, und oben mit Hilfe der europäischen Institutionen und der Finanzmärkte.

Spalten und gegeneinander aufstacheln

Auf verschiedene Zentren aufgeteilt wird die Macht ihrer Essenz beraubt und zu einem leeren Gehäuse. Und genau hier übermitteln die Barrikaden eine Botschaft, oder besser üben einen sinnentleerten Bann aus. Aus Gewohnheit versucht man, sich durch Spaltung zu erhalten: man stachelt die Bürger gegeneinander auf, Sofia gegen die Provinz, oder organisiert eine Demonstration von Regierungstreuen als Antwort auf die Massendemonstrationen.

Die Führung des Landes begreift immer noch nicht, dass mit den sozialen Netzwerken eine neue Form der Bürgerschaft entsteht, die das traditionelle Band von Politik und Theorie durchschneidet. Es wird nur noch eine Frage der Zeit sein, bis sich die verschiedenen Regionen des Landes neu organisieren, indem sie sich dieses neuen Demokratieprinzips bedienen, welches den territorialen Geist hinter sich lässt.

Der Vorsitzende der Sozialistischen Partei Sergei Stanischew und sein Amtskollege der Partei für Rechte und Freiheiten [die Partei der türkischen Minderheit], Lüfti Mestan, versuchen verzweifelt, den Weg des demokratischen Übergangs einzuschlagen — der sie vermutlich ausmustern wird. Gleichzeitig kleben sie an der Macht, mit allen Mitteln, bereit, jeden nur denkbaren Kompromiss einzugehen, selbst mit der Opposition, der GERB-Partei von Ex-Ministerpräsident Bojko Borissow. Dabei sollte ein Land von Menschen mit festen Überzeugungen geführt werden.

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