Nachrichten Migration – Eine Herausforderung für Europa (2/5)
Wartende bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt und Vandalismus im Vorort Husby. Schweden, 22. Mai 2013.

Die Mär vom egalitären Schweden

Schweden versteht sich als egalitäre und homogene Gesellschaft, doch in Wirklichkeit ist es ein Land mit wachsender Ausgrenzung, unfähig, Minderheiten zu integrieren. Reportage einer niederländischen Journalistin.

Veröffentlicht am 12 August 2013 um 11:37
Wartende bei einer Demonstration gegen Polizeigewalt und Vandalismus im Vorort Husby. Schweden, 22. Mai 2013.

Für Nazanin Johansson selbst ist es noch nie ein Problem gewesen. Sicher, man starrt sie oft wegen ihrer dunkeln Augen und ihres persischen Aussehens an, und sie weiß, dass sie härter arbeiten muss als andere. Dennoch ist für sie Schweden das Land, das es ihr ermöglicht hat, ihrer benachteiligten Situation zu entkommen. Hier konnte sie beispielsweise eine dynamische Vermittlerin werden, die für das Arbeitsamt in einem sozialen Brennpunkt arbeitet.

Man muss nur wollen. Und genau daran zweifelt Nazanin, wenn sie mit jungen Leuten spricht. „Sie wollen einen Job, aber nur wenn der cool ist. Sie wollen nicht unten anfangen. Man vergisst gern, dass es auch an der Mentalität der Jüngeren liegt.“ Nazanin arbeitet für das Arbeitsamt von Kista, einer Vorstadt Stockholms und technologisches Zentrum der schwedischen Hauptstadt.

Doch Kista liegt auch zwischen Rinkeby, Husby und Tensta, Orte, die im Mai in die Schlagzeilen gekommen sind, als die Jugend dort zu rebellieren begann. Eine Woche lang gingen Autos in Flammen auf, und es gab Straßenschlachten mit der Polizei. Die Bilder aus Schweden gingen um die Welt. Aufruhr in einem Land, dass seine Bürger von Geburt bis zum Tod umsorgt? Rassismus und Ausgrenzung im egalitärsten Land der Welt?

Ungleichheit wächst stärker als anderswo in Europa

Ja, es stimmt, stellte sich schnell heraus. Während die Welt anderweitig beschäftigt war, ging es mit dem schwedischen Modell bergab. Nach einer wirtschaftlichen Blase in den Neunzigerjahren schraubte die Mitte-Rechts-Regierung von Fedrik Reinfeldt 2006 die öffentlichen Ausgaben zurück.

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Gleichzeitig senkte sie den Spitzensteuersatz. Noch ist Schweden eine egalitäre Gesellschaft, doch die Ungleichheit wächst und zwar stärker als sonst irgendwo in Europa. Wie überall in Europa stehen auch hier Migranten, Langzeitarbeitslose und junge Leute — vor allem junge Leute — schlecht da. Und wie im Rest von Europa fallen die zahlreichen Randalierer in diese Kategorien.

Anders als in vielen europäischen Ländern, wo die Zahlen rückläufig sind, steigt in Schweden Jahr für Jahr die Zahl der Aufenthaltsgenehmigungen. Die 110.000 aus dem Jahr 2012 waren ein neuer Rekord. Unter den Flüchtlingen dominieren derzeit Syrer, Somalier, Iraker und Roma.

Für sie ist es viel schwerer, aus den Vorstädten wieder wegzukommen, als für ihre Vorgänger. Es gibt weniger Arbeit, die Gesellschaft ist komplexer, die Schwellen sind höher. „Ich hätte gerne für einen Sicherheitsdienst gearbeitet, aber dafür brauchte ich einen Führerschein“, erzählt beispielsweise der 22-jährige Ägypter Sameh Sakr aus dem Stadtbezirk Hallunda. „Wie soll ich den bezahlen?“

Es entwickeln sich „Gated Communities“

Die Segregation in Schweden ist groß. In Stockholm wohnen die meisten Migranten in Trabantenstädten entlang der blauen U-Bahn-Linie, im Volksmund Orient Express genannt. Es sind Betonklötze von drei bis sieben Etagen, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren erbaut wurden. 80 Prozent der Migranten wohnen hier, jeder zweite ist Arbeitslos, während sich die Quote in ganz Schweden sich auf 8 Prozent beläuft. Jeder vierte Migrant hat keinen Schulabschluss. Drei Prozent der schwedischen Kinder gelten als arm, denen stehen vierzig Prozent der Migrantenkinder gegenüber.

Das Arm und Reich getrennt leben, ist in allen europäischen Städten der Fall. Doch Stockholm besteht aus Inseln und zahleichen Grünflächen, was zur Folge hat, dass die Wohlstandsklassen fast automatisch zu „Gated Communites“ werden. Der Stadtteil Nockeby ist voll von gepflegten Villen mit Alarmanlagen. Rund um die U-Bahnstation Rinkeby hingegen lungern die Männer auf Bänken herum. Es gibt zwar ein türkisches Kaffeehaus und einen somalischen Basar, aber keinen einzigen Geldautomaten.

[[Wie kommt es, dass das egalitäre Schweden diese alarmierenden Statistiken und Inseln der Unzufriedenheit wachsen ließ?]] Es ist nicht so, dass die Regierung das Problem ignoriert. Im Gegenteil, das Ministerium für Integration will subventionierte Arbeitsplätze schaffen und die obligatorischen Schwedischkurse vielfältiger gestalten, so dass sich der irakische Ingenieur nicht in derselben Klasse wiederfindet wie der Somalier, der kaum lesen kann.

Mit Akzent kein Job

Der Minister für Integration, Erik Ullenhag, sagt, dass eine strengere Flüchtlingspolitik, wie von den fremdenfeindlichen Schwedendemokraten gefordert, nicht in Frage komme. „Wir sehen das als ein wirtschaftliches Problem, nicht als ein Einwanderungsproblem. Verschärft man gegenüber den Migranten die Politik, dann tut man den Werten unseres Landes Gewalt an. Darüber hinaus schadet man jenen, die bereits da sind. Schweden braucht Zuwanderung.“

Tobias Hübinette, Migrationsforscher vom Multikulturellen Zentrum in der südlichen Vorstadt Botkyrka, sagt, dass in der Praxis die Einwanderer viel, sehr viel Willenskraft, Ausdauer und Glück benötigen, um die Lohndifferenz, die Ausbildungsnachteile und den ethnischen Unterschied zu überbrücken. Sie werden nicht als Schweden angesehen, selbst wenn sie hier geboren wurden. Wer beispielsweise Rinkeby-Schwedisch spricht, ein Schwedisch mit Akzent, der kann einen Job vergessen.

Verspätetet Debatte über Integration

Ullenhag hat eine Lösung: Ein neues „Wir“ in Europa. „Ich mag es nicht, dass das „Wir“ in Europa immer auf die Vergangenheit verweist. In den Vereinigten Staaten ist jeder, der auf amerikanischen Boden lebt, ein Amerikaner. Das ist das „Wir“ der Zukunft. So muss Europa auch werden“.

„Es wäre ein Riesenunterschied”, sagt der Schriftsteller und Journalist Viggo Cavling, „wenn wir erst einmal erkennen würden, dass wir kein homogenes Land mehr sind, wo alle gleich sind.“ Genau das fällt den Schweden schwer, sagt der Migrationsforscher Hübinette. „Inzwischen haben 19 Prozent aller Schweden mindestens einen Elternteil mit Migratonshintergrund. Aber wir sind uns dessen noch nicht bewusst.

Vergessen wir nicht, dass Schweden keine Kolonien hatte. Darum ist Schweden ein nationalistisches Land. [[Die Schweden versuchen nicht nur, alles richtig zu machen, sie finden sich selbst auch richtig gut.]] Wir wollen Flüchtlinge aufnehmen, aber können nicht erkennen, dass wir damit auch große Missstände geschaffen haben. Wir laufen seit zwei Jahrzehnten der multikulturellen Debatte hinterher.“

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