Besucher der Manchester Day Parade, 2. Juni 2013

Manchester, die Vielsprachige

Einer Studie zufolge werden in Manchester – an der Bevölkerung gemessen – mehr Sprachen gesprochen als an irgendeinem anderen Ort der Welt. Damit hält die englische Stadt, einst Symbol des industriellen Niedergangs Großbritanniens, einen wichtigen Trumpf in den Händen.

Veröffentlicht am 27 August 2013 um 11:40
Donald Judge  | Besucher der Manchester Day Parade, 2. Juni 2013

Mit mehr als 150 gesprochenen Sprachen und einer Bevölkerungszahl von 480.000 Einwohnern ist Manchester im Vergleich zu allen anderen etwa gleichgroßen Ballungsgebieten weltweit die Stadt mit der größten Sprachvielfalts-Dichte. Ein wahrhaftiges Babel, in dem vier von zehn Bewohner mehrere Sprachen sprechen, darunter einige sehr seltene, wie Nahuatl aztekischen Ursprungs, oder „Eleme“, ein nigerianischer Dialekt, den weltweit nur 3.000 Menschen beherrschen. Ganz oben auf der Liste stehen (natürlich nach dem Englischen) Urdu, das 10.000 Personen sprechen, die vom indischen Subkontinent stammen, sowie Arabisch, Chinesisch, Bengalisch, aber auch Polnisch, Panjabi, Somali...

Dieser bunte Fächer ist das Ergebnis einer Studie, die eine Forschungsgruppe der Universität der Stadt im Rahmen des Projektes Multilingual Manchester durchgeführt und damit ein ziemlich einzigartiges Programm auf die Beine gestellt hat. Das wissenschaftliche Team, das eine Unmenge von Daten analysiert hat, die ihm von den Behörden und lokalen Verwaltungen (Schulen, Bibliotheken, Krankenhäusern, offiziellen Zählungen, usw.) bereitgestellt wurden, hat seit 2010 mehr als 100 Berichte über Mehrsprachigkeit und sprachliche Minderheiten angefertigt und vor Kurzem eine Zusammenfassung [seiner Ergebnisse] veröffentlicht.

Aus diesem Resümee geht unter anderem hervor, dass sich 3.000 Schüler der Schulen der Stadt im Jahr 2012 dafür entschieden haben, ihre „Abschlussprüfungen der Sekundarstufe II“ [Abitur/Hochschulreife] in einer Fremdsprache abzulegen, dass 20.000 nicht-englische Bücher und andere Medien mehr als 70.000 Mal in den Bibliotheken der Stadt verliehen wurden, und dass innerhalb von zwei Monaten über 12.000 Nachrichten in 50 unterschiedlichen Sprachen auf Twitter gepostet wurden...

Eine Stadt der Immigranten

Die Tatsache, dass Manchester mehrsprachig ist, ist kein wirklich überraschendes Ergebnis. Immigration gehört hier zum alten Eisen und hat bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begonnen. Damals zog dieses Kerngebiet der industriellen Revolution Arbeiter mit den unterschiedlichsten Wurzeln an. Und das gilt auch heute noch. Nach London ist [Manchester] die Stadt, deren Bevölkerung innerhalb von zehn Jahren am stärksten angewachsen ist: Zwischen 2001 und 2011 lag die Wachstumsrate bei 19 Prozent (gegenüber landesweiten sieben Prozent). Und jedes Jahr kommen 1.500 neue Kinder im Schulalter hinzu.

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Allerdings übertreffen die Schätzungen von „Multilingual Manchester“ die amtlichen Zahlen, die bisher veröffentlicht wurden und die vermutlich ein verzerrtes Bild vermitteln, weil sie der sogenannten „Hauptsprache“ viel zu viel Bedeutung beimessen, und die Vielfalt der Sprachen, die ein einzelnes Individuum spricht, völlig unterbewerten. So erklärten nur 20 Prozent der Einwohner Manchesters bei der offiziellen Zählung im Jahr 2011 in England und Wales „eine andere Sprache als das Englische als Hauptsprache zu verwenden“.

Gleichwohl zieht diese ganz erhebliche Mehrsprachigkeit die sprachliche Integration keineswegs in Mitleidenschaft. 80 Prozent der Einwohner, deren erste Sprache nicht das Englische ist, erklärten, diese [Sprache] dennoch gut, beziehungsweise sehr gut zu beherrschen. Im Vergleich dazu haben nur drei Prozent der Einwohner zu Protokoll gegeben, die Landessprache gar nicht zu beherrschen. Und der Großteil der 17 Prozent, die angegeben haben, die englische Sprache nicht wirklich sicher zu beherrschen, besteht vor allem aus älteren Menschen.

„Eine wahre Bereicherung”

Den Forschungsergebnissen entsprechend ist diese Vielfalt eine wahre Bereicherung. [Dem Bericht zufolge] erleichtere die Interaktion zwischen all diesen Sprachgruppen sowohl den Dialog zwischen den Religionen als auch den sozialen Zusammenhalt. Zudem profitieren Angebot und Nachfrage von Dolmetschern, Übersetzern, Schulassistenten, usw. davon. Außerdem biete die Mehrsprachigkeit den ortsansässigen Unternehmen der Stadt die Möglichkeit, ihr Adressbuch zu erweitern und ihre internationalen Handelsbeziehungen auszubauen. Darüber hinaus ziehe die auf dem Arbeitsmarkt zunehmend gefragte Fähigkeit, mehrere Sprachen zu sprechen, sowie die Präsenz vieler junger, gebildeter und mehrsprachiger Menschen immer mehr multinationale Unternehmen an...

Hinzukommt auch, dass die Stadt ihren Nutzen aus dieser Ressource ziehen kann, ohne viel öffentliches Geld zu investieren, zumal sprachliche Kenntnisse vor allem innerhalb der Familien und Gemeinschaften vermittelt werden. Beispielsweise nehmen 8.000 Schüler an Sprachkursen teil, die alle von etwa fünfzig verschiedenen [Sprach-]Gruppen organisiert werden. Und zahlreiche Gemeinschaftszentren bieten ihren Mitgliedern noch viele andere Dienstleistungen an.

Die staatlichen Behörden begnügen sich damit, einen reaktiven Ansatz zu verfolgen, anstatt proaktiv vorzugehen. Sie handeln pragmatisch, dezentralisieren und kümmern sich um jeden Einzelfall, indem sie Dokumente in mehreren Sprachen zur Verfügung stellen, Dolmetscherdienste anbieten, Zertifikate für die erworbenen sprachlichen Kenntnisse ausstellen, usw. Die Weisheit der lokalen Einrichtungen liegt darin, [den Menschen] weder im öffentlichen Raum noch im privaten Bereich den Mut vor den Herkunftssprachen zu nehmen, sich gleichzeitig aber auch für die Erleichterung des Lernens der englischen Sprache einzusetzen.

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