Katalanischer Frust

Ein Jahr nach den Massenprotesten für die Unabhängigkeit Kataloniens wird der offizielle Katalonien-Tag am 11. September wieder im Zeichen dieser Forderung stehen. Der politische Prozess in diese Richtung ist jedoch bisher nicht viel weiter gekommen.

Veröffentlicht am 11 September 2013 um 08:30

Katalonien ist lästig geworden. Sowohl für die Katalanen als auch für die Nichtkatalanen. Viele Spanier haben sich daran gewöhnt, die Katalanen insgesamt als Erpresser und Verräter zu betrachten. Die katalanische Gesellschaft ist frustriert. Sie vereint die Verbitterung der Unabhängigkeitskämpfer, die Unzufriedenheit derjenigen, die sich als Spanier im Feindesland fühlen, und die Enttäuschung einer immer größeren, mehr oder minder bunt zusammengewürfelten Gruppe von Menschen, die weder die Unabhängigkeit noch den Zentralismus befürworten, sich in Schweigen hüllen oder sich – manchmal – in Humor flüchten und das ungestüme Treiben der letzten Jahre mit großer Bestürzung verfolgen.

Die gemäßigten Stimmen, das heißt die Stimmen jener, die sowohl das Unabhängigkeitsstreben als auch die Beschuldigung, in Katalonien würde ein „linguistischer Völkermord“ begangen, für wahnwitzig halten, verstummen nach und nach.

Die katalanischen Nationalisten, deren Ansicht nach eine Sezession durchführbar, vorteilhaft, ja sogar vernünftig ist, dominieren die Szene. Diejenigen, die sich der Gefahren und der völlig irrealen Komponente einer Abspaltung bewusst sind, neigen dazu, zu schweigen oder, wie die Unternehmer, nur einen Bruchteil dessen zu sagen, was sie denken. „Wir äußern unsere Meinung und reagieren nur im engsten Kreis: [Dem Präsidenten der autonomen Regierung Kataloniens] Artur Mas haben wir unsere Meinung unverblümt gesagt“, bemerkt der Chef eines der größten Unternehmen mit Sitz in Katalonien, der das Streben nach Unabhängigkeit für „eine Katastrophe, ein Unglück, etwas, das auf alle Fälle schlecht ausgeht“ hält.

Ein Gesetz des Schweigens

Niemand will zugeben, dass es ein Gesetz des Schweigens gibt, niemand wagt zu sprechen, auch wenn alle eingestehen, dass die Generalitat [autonome Regierung Kataloniens] über die öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radiosender sowie die Subventionen und Hilfen für die Presse einen maßgeblichen Einfluss auf die katalanischen Medien und die öffentliche Meinung ausübt. „Niemand will den Politikern an der Macht die Stirn bieten, niemand will sich in Schwierigkeiten bringen; [[Mas fehlt es eindeutig am nötigen Niveau, aber gibt es keine Alternative“, gesteht ein Unternehmer „Auch seine Gesprächspartner in Madrid sind der Situation nicht gewachsen.“]]

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In Katalonien hat sich die Überzeugung breitgemacht, dass die Region vom Staat ungerecht behandelt wird, sowohl auf der Ebene der Steuern (zwischen 2005 und 2010 sollen jährlich Steuergelder in Höhe von 10 Milliarden Euro aus der Region geflossen sein, die anderen Landesteilen zugutekamen, wobei allerdings zu beachten ist, dass die Höhe dieses Betrags davon abhängt, wer ihn berechnet) als auch auf der Ebene der staatlichen Investitionen. Abgesehen von jenen, die sich wegen der vermeintlichen Plünderung echauffieren und klagen, dass „Spanien sie ausrauben“ würde, wird das Ungleichgewicht in den Kreisen der Unternehmer und Akademiker stillschweigend akzeptiert.

Über Tatsachen kann man vernünftig diskutieren. Viel schwieriger ist es, über Gefühle zu sprechen. Und mehr als die Hälfte der katalanischen Bevölkerung „fühlen“ den Umfragen zufolge, dass Katalonien eine eigene Nation ist. Diese Emotionen führen wiederum dazu, dass die Katalanen ihre Geschichte neu schreiben oder Teile davon ganz einfach erfinden. Wenn handfeste Fakten wie die eigene Sprache, die neben dem Kastilischen gesprochen wird, die eigenen Traditionen und das Zugehörigkeitsgefühl nicht mehr genügen, um die Kriterien der so genannten Kulturnation zu erfüllen, wird nach einer imaginären Vergangenheit gegriffen, in der Katalonien unabhängig war und von den spanischen Imperialisten unterjocht wurde. Der Fall von Barcelona infolge der Belagerung durch die französischen Truppen am 11. September 1714 beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, wird aber bis zum heutigen Tag als katalonischer Nationalfeiertag gefeiert, der sich bald zum dreihundertsten Mal jährt und zu neuen Zusammenstößen führen könnte.

Eine gefühlte Nation

Das Nationalgefühl der Katalanen, das der Hoffnung, bald ein eigener Staat zu sein, gedanklich vorgelagert ist, wird vermutlich vom Bildungssystem gefördert, dessen umstrittenster Aspekt wohl der Unterricht in katalanischer Sprache ist.
Die Angst vor der Krise und der Mangel an politischen und wirtschaftlichen Alternativen haben dazu geführt, dass Teile der katalanischen Gesellschaft eine so riskante (und institutionell undurchführbare) Lösung wie die Unabhängigkeit für vernünftig halten. In einer Zeit, in der die Politik, das heißt die Wahl zwischen verschiedenen Modellen, sich in Luft aufgelöst hat und nur mehr Korruption der Regierenden und Verarmung der übrigen Bevölkerung bedeutet, hat sich die Abspaltung von Spanien in das einzige überzeugende Projekt oder zumindest den weithin hörbarsten Protestschrei verwandelt.

Es herrscht Einigkeit über das Datum, an dem sich die Lage endgültig verschlechtert hat: Am 28. Juni 2010, als das [Verfassungsgericht](284011] verkündete, 14 [der 223] Artikel des katalonische Autonomiestatus von 2006 wären verfassungswidrig. Daraufhin entwickelte sich die Situation in schwindelerregendem Tempo. Besonders die Massenkundgebung am 11. September 2012 schüttete Öl auf das nationalistische Feuer. Artur Mas war mit dem Entwurf eines Steuerpakts nach Madrid gereist, den Mariano Rajoy abwies, während Spanien technisch zahlungsunfähig war und kurz vor einem Rettungsgesuch stand. Am 10. September 2012 verlangte der katalanische Ministerpräsident mehr Geld für seine Region. Am 12. September forderte er auch die Unabhängigkeit, obwohl er sich hütete, die Sache beim Namen zu nennen. Seine anschließende Entscheidung, die regionalen Parlamentswahlen vorzuziehen, in der Hoffnung, die absolute Mehrheit zu gewinnen und danach eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens abhalten zu lassen, stellte sich als kolossaler taktischer Fehler heraus. Seine Partei musste kräftige Stimmenverluste hinnehmen.

75% für die Unabhängigkeit

[[Die Frage der Abstimmung über die Unabhängigkeit, die von beinahe 75 Prozent der Bevölkerung befürwortet wird, ist an einem unverständlichen Punkt angekommen.]] Während Arturo Mas versucht, mit vertraulichen Besprechungen über Finanzierungslösungen und die Abhaltung von Befragungen wieder Brücken zur Regierung in Madrid zu schlagen, verspricht er der Esquerra Republicana de Catalunya [Republikanische Linke Kataloniens] ein Referendum vor 2015. Wenn er sich allerdings an seine eigene Wählerschaft wendet, die aus Separatisten, Souveränisten (die sich eine Art Unabhängigkeit innerhalb Spaniens vorstellen) und Autonomisten besteht, nuanciert er sogleich seine Worte und meint, die Volksabstimmung würde selbstverständlich nur durchgeführt, wenn „die gesetzlichen Grundlagen dafür bestehen“.

Die Menschen, die heute, am 11. September, Hand in Hand auf die Straße gehen und eine ganz Katalonien durchquerende Menschenkette bilden wollen, stellen einen neuen Höhepunkt im Kampf um die Unabhängigkeit dar. Doch sollte man die Wirkung einer solchen bunten, pazifistischen Demonstration nicht überschätzen. Was auch immer passiert, die so genannte vía catalana wird den Befürwortern der Abspaltung neue Impulse verleihen. Artur Mas hat sich distanziert, um nicht wieder wie 2012 ins Fettnäpfchen zu treten. Er wird die Menschenkette am 11. September wahrscheinlich nutzen, um von der Zentralregierung in Madrid neue Eingeständnisse zu verlangen. Das Streben nach Unabhängigkeit besteht. Es ist heute so groß, dass es weder ignoriert noch unterdrückt werden kann. Der allgemeine Frust dürfte also noch eine Weile anhalten.

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