Ideen Die Lage der Europäischen Union

Reden gegen die Wand?

EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat heute seine Rede zur Lage der Europäischen Union gehalten, doch das Interesse dafür wird wie üblich gering sein. Merkwürdig, findet Hendrik Vos, nimmt Europa doch einen immer wichtigeren Platz in unserem Leben ein.

Veröffentlicht am 11 September 2013 um 16:29

Seit vielen Jahrzehnten halten die amerikanischen Präsidenten zu Beginn des Jahres ihre traditionelle State of the Union Address, die Rede zur Lage der Nation. In einer leidenschaftlichen Ansprache vor dem Kongress werden die Pläne und Herausforderungen für die kommenden Monate skizziert. Alle zwei oder drei Sätze wird der Präsident von einer Standing Ovation unterbrochen. Eine La-Ola-Welle haben wir noch nicht gesehen, aber viel fehlt dazu nicht. Zig Millionen Amerikaner verfolgen die Ansprache, die von fast allen TV-Sendern live übertragen wird. Tagelang wird in den Medien jedes Wort, jeder Buchstabe, jedes Komma seziert. Zeitungen drucken Extraseiten.

Heute hat EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso seine Rede zur Lage der Union gehalten. Seit 2010 spricht er zu Beginn des parlamentarischen Jahres vor dem Europäischen Parlament. [Der belgische Fernsehsender] Villa Politica überträgt die Rede, doch ob sie in den Pflege- und Altenheimen zahlreich verfolgt werden wird, ist ungewiss. Barroso hält seine Rede immer morgens, nicht zur Hauptsendezeit wie in den USA. Ob noch andere Kanäle sie zeigen werden, konnten wir nicht herausfinden. Aber wir können voraussagen, wo die meisten Zeitungen darüber berichten werden: bestenfalls in einer kleinen Spalte irgendwo in den Auslandsseiten. Seien wir ehrlich: die europäische State of the Union ist eine schwache Kopie der amerikanischen Version, Europa ist nicht Amerika.

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Europa hat in vielem das Sagen

Doch diese Ignoranz ist ungerechtfertigt. Wir sind viel mehr die Vereinigten Staaten von Europa als uns selbst klar ist. Sicher, es gibt immer noch zentrale Bereiche, in denen die EU weniger Macht besitzt als die US-Regierung. In der Außenpolitik beispielsweise. Würde Barack Obama entscheiden Syrien anzugreifen, dann würde das auch geschehen. Der EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy besitzt diese Macht nicht, umso weniger, als er über keine Armee verfügt. Doch anderen Bereichen ist der Einfluss Brüssels auf die achtundzwanzig Mitgliedsstaaten größer als der Washingtons auf die fünfzig US-Staaten. In den vergangenen Jahren, aufgrund der Eurokrise, hat die EU ihre Mitgliedsstaaten noch fester im Griff.

Diskussionen über unseren Staatshaushalt werden heute komplett vom „Was erlaubt Europa“ überschattet. Die Regierung kann mit viel Theater einen neuen Bahnchef ernennen, doch der Rahmen, in dem er arbeiten darf, wird in einer ganzen Reihe von „EU-Bahnpaketen“ festgelegt. Es steht auch in den EU-Regelungen, wie die Post oder die Energieunternehmen arbeiten müssen. Der Preis fürs mobile Telefonieren wird von der EU reguliert. Es gibt tausende von alltäglichen Dingen, die von der EU reglementiert werden, von der Definition, was Schokolade ist, bis zur Art und Weise, wie die Augen auf Teddybären befestigt zu sein haben.

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Bei uns läuft sich heute jeder für die flämischen und föderalen Wahlen am 25. Mai 2014 warm. Die Journalisten sind in ihrem Element und die Beobachter schauen in die Kristallkugel. Der Wahlkampf, so sagt man, drehe sich um die Positionen der [separatistischen] Neuen Flämischen Allianz (N-VA), sowie um die künftige Organisation Belgiens. Von den Europawahlen, die am selben Tag stattfinden, hören wir fast nichts. Auf vielen Ebenen sind wir viel mehr die Vereinigten Staaten von Europa als die USA die Vereinigten Staaten von Amerika. Doch aus irgendeinem Grund wollen wir das nicht wissen. Das Wie und Warum interessiert uns weniger.

„Europa bleibt ein blinder Fleck”

Sicher, es gibt noch Bereiche, in denen die nationale Politik Spielraum besitzt. Doch sie werden immer weniger und die Margen werden kleiner. Eurapa gibt die Richtung vo und im allgemeinen verfügt das Europäische Parlament über eine wichtige Stimme — und wenn es um die Gesetzgebung geht, sogar über das letzte Wort. Dasselbe Parlament, das in Kürze den Präsidenten der Europäischen Kommission wählen und jeden einzelnen EU-Kommissar beurteilen wird.

Wer am technischen Lack der EU-Dossiers kratzt, erkennt bald, dass hier die prinzipiellen ideologischen Entscheidungen getroffen werden: über das Verhältnis von Wachstum und Sparen, über die Bedeutung der kulturellen Vielfalt, über soziale Fragen und Liberalisierung, über Landwirtschaft und Entwicklung.

Die europäische Politik kann in viele Richtungen gehen; alles hängt davon ab, wie das Europäische Parlament demnächst aussehen wird. Doch das interessiert uns weniger als die Frage, ob wir die EU-Verordnungen demnächst als Förderation oder als Konföderation umsetzen werden.Europa nistet sich wahnsinnig tief in die große Politik und in alltägliche Dinge ein, doch wir bringen das Kunststück fertig, dem keinerlei Aufmerksamkeit zu widmen. Europa bleibt ein blinder Fleck.

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