Report Wirtschaft

Deutschland hat sich selbst ein Bein gestellt

Im ersten Halbjahr 2014 wird Griechenland die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen. Eine der Aufgaben wird es dann sein, die wirtschaftliche Situation der Mitgliedsstaaten zu bewerten und ein Land könnte sich dann in einer besonders brenzlichen Lage befinden: Deutschland... aufgrund seiner Exportzahlen.

Published on 25 September 2013 at 15:26

Nachdem sich die Wogen um die Wahl wieder geglättet haben, wird die deutsche Regierung sich zwei großen europäischen Herausforderungen stellen müssen.

Die zusätzlichen Hilfen für Griechenland dürften keine großen Schwierigkeiten bereiten. Das ganze Gegenteil aber gilt für die europäische Agenda: Der Zufall will, dass Griechenland im ersten Halbjahr 2014 die Ratspräsidentschaft der Europäischen Union übernehmen wird, und am 24. Juli den vierzigsten Jahrestag des Endes der Militärdiktatur feiern wir, die auch die Diktatur der Obristen genannt wird.

Griechenlands Präsidentschaft wird vor allem politischer Natur sein, zumal es aufgrund seiner mangelnden Glaubwürdigkeit nicht in der Lage ist, ein wirtschaftliches Projekt für die Union zu erarbeiten und umzusetzen. In Athen wird ein EU-Gipfel zu den westlichen Balkanstaaten stattfinden, der den Titel „Thessaloniki II” tragen wird. Ziel wird es sein, eine gemeinsame politische Erklärung zu verabschieden, in der man sich auf ein „ehrgeiziges aber realistisches” Datum einigt, bis zu dem der EU-Beitrittsprozess aller westlichen Balkanstaaten abgeschlossen sein soll.

Für Griechenland steht viel auf dem Spiel

Für Griechenland steht ganz offensichtlich viel auf dem Spiel, insbesondere vom regionalpolitischen Standpunkt aus betrachtet: Obwohl [das Land] am europäischen Kontinent hängt, hat es erst seit dem EU-Beitritt Bulgariens tatsächliche gemeinsame Landgrenzen mit der Union. Im Südosten ist und bleibt es dagegen isoliert. Mit der Integration der Balkanstaaten könnte Europa [einerseits] wieder ins Gleichgewicht gebracht werden, [andererseits] aber auch der demokratische Übergangsprozess in diesen Ländern fest verankert werden. Dann könnte Deutschland auch keine Ausflüchte mehr suchen: Seine Regierung wird die Bevölkerung von der Notwendigkeit [dieser Beitritte] überzeugen müssen und dem Erweiterungskalender der EU trotz der wirtschaftlichen Risiken zustimmen müssen.

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Die zweite Herausforderung wird sich unterdessen sehr viel schneller bemerkbar machen: Seit der Einführung des „EU-Six-Packs” (d. h. den sechs europäischen Gesetzgebungsmaßnahmen zur Stärkung des Stabilitäts- und Wachstumspakts) Ende 2011, gibt es neben der berühmtberüchtigten 3-Prozent-BIP-Grenze des gesamtstaatlichen Defizits, der im Maastricht-Vertrag vereinbarten Obergrenze der Schuldenquote von 60 Prozent des BIP, sowie der im Fiskalpakt beschlossenen 0,5-Prozent-Marke des strukturellen Defizits eine weitere technokratische Steuerung der Union, und ganz besonders der Eurozone.

Jedes Jahr im Herbst wird die Kommission die makroökonomischen Ungleichgewichte der einzelnen Länder der Union untersuchen und eine Diagnose erstellen. Dabei wird sie sich auf eine Reihe von elf Indikatoren stützen! Für jeden von ihnen wurde eine Wertbandbreite festgelegt. Sollte der Indikator außerhalb dieser fixierten Werte liegen, wird ein Ungleichgewicht festgestellt. Aber seien wir von vornherein ehrlich: Diese Wertbandbreiten haben genauso wenig etwas mit soliden wirtschaftlichen Überlegungen zu tun wie die Kriterien des Maastricht-Vertrages.

Eine Prüfung des Ungleichgewichts

Mit diesem ersten Bewertungsverfahren soll bestimmt werden, welche Länder sich im Ungleichgewicht befinden. Rechnet man diese Ungleichgewichte dann zusammen, oder verschlimmern sie sich sogar, so kann in einem zweiten Schritt eine „gründliche Prüfung” angeordnet werden.

[[Im November 2012 wurden dreizehn Mitglieder der Union, darunter Frankreich und Großbritannien, zu unausgeglichenen Ländern erklärt]]. Allerdings wurden die Ungleichgewichte dieser beiden Länder – anders als das Spaniens – im Frühjahrsbericht – im Laufe des sogenannten Europäischen Semesters – dann als nicht „übermäßig” beurteilt. Glück gehabt! Denn ein Land im „übermäßigen” Ungleichgewicht muss die von der Europäischen Union empfohlenen Korrekturmaßnahmen ergreifen.

Nach zwei Verstößen kann eine ganz erhebliche finanzielle Sanktion gegen [den betroffenen Staat] verhängt werden: Bis zu 0,1 Prozent seines BIP. Und den Ländern, deren Ungleichgewicht als nicht übermäßig erachtet wurde, wird wärmstens empfohlen, den Empfehlungen der Kommission Folge zu leisten.

Die Krux mit der Außenhandelsbilanz

Deutschland wurde nicht zu einem im Ungleichgewicht befindlichen Land erklärt. Allerdings ist es dieser Bewertung nur sehr knapp entkommen. Eines der Kriterien ist nämlich die aktuelle Außenhandelsbilanz: Diese darf in einem gleitenden Drei-Jahres-Durchschnitt kein Defizit von über vier Prozent des BIP, gleichzeitig aber auch keinen Überschuss von mehr als sechs Prozent des BIP aufweisen.

Dieser zweite Wert ist ein Zugeständnis des Exportmeisters Deutschland. Frau Merkel war der Meinung, dass die Sparpolitik, die den Ländern am Rande Europas aufgezwungen wurde, die deutsche Bilanz unterhalb der sechs-Prozent-Marke halten würde, wobei dieser Wert bereits recht großzügig ist.

Man hätte Deutschland auf diese Weise nicht vorwerfen können, dass seine Wettbewerbsfähigkeit zu hoch ist und das Gleichgewicht der Union bedroht. Und gleichzeitig hätte man die anderen [Länder] als nicht ausreichend konkurrenzfähig abstempeln können. Genau hier finden wir das zentrale Leitmotiv wieder, das sich die Kommission seit Beginn der Krise zu Eigen gemacht hat.

Das Feilschen um Prozente

Aber siehe da! Krach, Bumm, Peng: Deutschland exportiert immer mehr! Dementsprechend wurde entschieden, die vorläufigen Zahlen „herzurichten”, bevor sie an Eurostat geschickt wurden. Und welch ein Wunder: Der von der Kommission im Herbst 2012 errechnete gleitende Durchschnitt beläuft sich auf... 5,9 Prozent! Deutschland befindet sich also nicht in einem makroökonomischen Ungleichgewicht... Die endgültigen Zahlen, die im Frühjahr 2013 veröffentlicht wurden, zeigen dagegen, dass der Durchschnitt bei 6,1 Prozent liegt. Dann war es aber schon zu spät: Das Europäische Semester hatte bereits begonnen und Deutschland befand sich längst mitten im Wahlkampf.

All das zeigt, wie absurd eine automatische Zahlen-Steuerung ist: Schließlich kann die definitive Diagnose in Abhängigkeit von den endgültig verfügbaren Daten ganz anders ausfallen. Und was macht man, wenn gegen ein Land auf Grundlage der statistischen Angaben Sanktionen verhängt wurden, sich am Ende aber herausstellt, dass diese falsch waren?

Diktatur der Zahlen

In der Zwischenzeit ist der Überschuss Deutschlands noch weiter angestiegen. Jedoch ist es unmöglich geworden, die Zahlen zu verbiegen. [Der Durschnitt] für den Zeitraum 2010-2012 wird sich zwischen ganz bequemen 6,4 Prozent und 6,6 Prozent des BIP einpendeln. Dementsprechend hat sich Deutschland selbst ein Bein gestellt. Genau wie die Europäische Kommission auch.

Das Ziel der Diktatur der Zahlen war es, auch gegen den Willen der Bevölkerungen Reformen zu erzwingen. Als Argument diente der Musterschüler Deutschland. Wenige Monate vor den Europawahlen ist es nun aber schwer vorstellbar, dass Griechen, Franzosen oder Spanier es [erneut] ertragen würden, dass Deutschland unberechtigt bevorteilt wird.

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