Räumung eines Roma-Lagers in der Nähe von Lille am 18. September 2013.

Besessen von der Roma-Frage

Drei Jahre nach Nicolas Sarkozy wird nun auch Frankreichs sozialistische Regierung von der EU beschuldigt, die Roma zu diskriminieren. Das Thema gibt regelmäßig Anlass zu Polemik, denn es offenbart viele Probleme des Landes.

Veröffentlicht am 26 September 2013 um 16:26
Räumung eines Roma-Lagers in der Nähe von Lille am 18. September 2013.

Es wird ständig wiederholt – nur leider ist es deswegen noch lange nicht falsch: Die Frage der Roma könnte durchaus im Mittelpunkt der nächsten Wahlkampagnen stehen [Kommunalwahlen in Frankreich im März 2014 und Europawahlen im Mai 2014]. Jetzt schon haben mehrere Kandidaten für die Kommunalwahlen das Problem aufgegriffen, um damit um die Gunst der Bevölkerung zu buhlen. Die Zahl der Roma, die auf französischem Staatsgebiet leben, wird vom Innenministerium auf nur rund 20.000 geschätzt. Doch nicht weniger als 70% der Befragten erklären sich „beunruhigt über die Anwesenheit der Roma in Frankreich“.

Die Frage der Roma taucht immer wieder in der öffentlichen Debatte auf, denn sie offenbart zahlreiche Probleme, die unser Land verfolgen. Eines davon ist die Schwierigkeit, mit welcher der Staat die Einhaltung der Gesetze durchzusetzen vermag. Denn was abgelehnt wird, sind wilde Roma-Lager. 86 Prozent der Befragten sind dagegen, dass in ihrer Nähe solche Lager entstehen. Allerdings liegt diese Zahl bei 44 Prozent, wenn es sich um legale Roma-Lager handelt.

Die Öffentlichkeit ärgert sich nicht nur über die Langsamkeit, mit welcher die Behörden die illegalen Lager auflösen, denn sie haben mit schwerfälligen Verfahren und auch mit dem Einfallsreichtum der Roma zu kämpfen, sondern ist auch enttäuscht über die Erfolglosigkeit der Maßnahmen. Fast schon karikaturistisch lebt durch die Roma die Tatsache auf, dass es Frankreich schwer fällt, Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund zu integrieren. Auch die so oft angedeutete Verbindung zwischen Immigration und Kriminalität wird durch sie in ein grelles Licht getaucht. Das heikle Thema wird entweder naiv abgestritten oder alle werden zynisch über einen Kamm geschert.

Gefundenes Fressen für Marine Le Pen

Im Fall der Roma besteht leider kaum Zweifel: Ein Teil der in Frankreich Ansässigen hat sich einer ganzen Reihe von illegalen Aktivitäten verschrieben, von organisierter Bettelei über diverse Diebstähle bis hin zur Prostitution. Doch diese Gruppen sind keinesfalls typisch für die Roma-Gemeinschaft der osteuropäischen Länder im Allgemeinen.
Diese Vorkommnisse lösen umso mehr Angst aus, da das Misstrauen gegenüber den „Zigeunern“ in der Volkserinnerung verankert bleibt. Marine Le Pen, [die Parteichefin der rechtsradikalen Front National], ist sich durchaus im Klaren darüber, dass die Furcht vor den Roma, die sich manchmal in Gebieten mit geringer Immigration und Kriminalität niederlassen, oftmals zu einem Publikumszuwachs für ihre Partei führt.

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[[Die Roma-Problematik bringt auch Europa in Bedrängnis]]. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Wenn Rumänien – das Land, aus welchem der Großteil der Roma in Frankreich stammt – die Rechte dieser Minderheit nicht achtet und sie aktiv diskriminiert, dann versteht man nicht, was [das Land] in einer Europäischen Union zu suchen hat, deren Werte es nicht respektiert. Doch falls es das nicht tut, dann besteht wohl kaum Grund dazu, in Frankreich eine bedürftige Bevölkerung zu empfangen, die massiv aus einem anderen EU-Staat einreist.

Abgesehen von den illegalen Vorgängen, die auf Hin- und Herreisen beruhen, hat die Anwesenheit zahlreicher Roma wohl eher mit einer Art simpler Wirtschaftsmigration zu tun. Ein reiches Land bietet Armen mehr Chancen. Auch hier spielen die europäischen Regelungen eine Rolle.
Das Recht auf freien Personenverkehr und Wahl des Wohnortes gehören zu den großen Grundsätze der Union. Im Jahr 2014 werden die Einschränkungen der Rechte für rumänische und bulgarische Staatsbürger aufgehoben und in einem wirtschaftlich so heterogenen Europa bleibt dies nicht ohne Risiken.

Die Hölle ist das Fremde

Zuletzt wirft das traurige Los der Roma ein Licht auf den schrecklichen Kontrast zwischen einerseits den schönen Reden, die Lobeshymnen auf die Vielfalt und andererseits der Ablehnung des Andersartigen, die sich in der Gesellschaft auf immer brutalere Weise ausdrückt. Romeurope, ein [französisches] nationales Kollektiv für Menschenrechte, hat viel zu tun, wenn es bestehende Vorurteile [gegenüber Roma] mit einer simplen Broschüre bekämpfen will.

Die Angst vor dem Fremden, der so anders lebt, sitzt in einer Gesellschaft, die von der Krise verängstigt ist und schon unter der Kleinkriminalität und einer unzulänglichen Integration der Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund leidet, tief. Dabei sollten die politischen Verantwortlichen lieber an alles erinnern, was die Roma, die schon im Mittelalter aus Indien nach Europa gelangten, im Lauf ihrer Geschichte erdulden mussten.

Von ihrer Verfolgung in Frankreich oder in Deutschland – schon damals – über ihre Versklavung in Rumänien bis zum Völkermord während des Nationalsozialismus sind ihnen nur wenige Verhängnisse erspart geblieben. [[Dieses Unglück hat die Roma dazu gebracht, sich abzukapseln]] – ein Ausdruck, der hier ganz zur Geltung kommt. Ihre kulturelle Eigenheit, die als Reaktion auf ihr Schicksal erhalten blieb, trug zu ihrer Isolation bei. Je ausgestoßener man sich fühlt, desto mehr riskiert man auch, asoziale Verhaltensmuster zu entwickeln. Gewiss eignen sich Wahlkämpfe nicht, um Mittel und Wege zu finden, um ein so schwerwiegendes und komplexes Problem zu lösen.

Reaktionen

Brüssel ermahnt Paris - Bukarest ist empört

„Bezüglich der Äußerungen von Manuel Valls über die mangelnde Integrationsbereitschaft der Roma hat die EU-Kommission auf die geltenden Regelungen zum freien Personenverkehr für diese Bevölkerungsgruppe hingewiesen und Frankreich mit rechtlichen Schritten gedroht”, schreibt Libération. Der Tageszeitung zufolge bedauert die Kommission das Fehlen eines „Integrationsplans” und erinnert die französische Regierung daran, dass

die Herkunftsländer der in Frankreich lebenden Roma Rumänien und Bulgarien ebenfalls (seit 2007) Mitglieder der Union sind. Dies sichert ihren Bürgern alle in den EU-Verträgen verankerten Rechte zu, auch wenn sie einer unbeliebten Minderheit angehören.

In Bukarest hat der rumänische Ministerpräsident Victor Ponta laut Evenimentul Zilei erklärt, dass

Rumänien in Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission für die Ausarbeitung einer Integrationsstrategie für die Roma verantwortlich ist. Dabei geht es nicht nur um Frankreich, sondern ganz Europa. Ein Zusammenhang zwischen den Roma und Schengen existiert nicht. Jeder weiß, dass Rumänien nicht zum Schengenraum gehört. Dennoch sind die Roma da!

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