Auf dem Grabstein: Wohlfahrtsstaat

Adieu, Wohlfahrtsstaat!

Angesichts der heiklen Finanzlage der EU-Länder ist das Überleben des Wohlfahrtsstaates bedroht. Es wird also Zeit, über ein neues Modell nachzudenken, das sich auf das Prinzip der partizipativen Demokratie stützen könnte.

Veröffentlicht am 9 Oktober 2013 um 11:27
Auf dem Grabstein: Wohlfahrtsstaat

Der sensationellste Meldung der letzten Zeit machte keine Schlagzeilen. Sie war in der Thronrede des neuen niederländischen Königs zur offiziellen Eröffnung des parlamentarischen Jahres versteckt. In seiner Ansprache kündigte der holländische Staatschef „die Ablösung des klassischen Wohlfahrtsstaats durch eine partizipative Gesellschaft“ an. Anders ausgedrückt, rief er das Ende des Wohlfahrtsstaats aus, der manchen wohl nicht mehr so unantastbar erscheint wie früher. Getroffen wurde dieser Entscheidung auch nicht von König Willem-Alexander, sondern vom niederländischen Ministerpräsidenten, der die Rede verfasst hatte. Dabei leitet er nicht einmal wie einst Thatcher oder heute Merkel ein Kabinett aus konservativen Politikern, sondern eine Regierung aus Rechtsliberalen und Sozialdemokraten. Eine Erläuterung folgte im nächsten Absatz: „Die Verwandlung in eine partizipative Gesellschaft ist besonders für die soziale Sicherheit und für Menschen wichtig, die Langzeitpflege benötigen. Gerade in diesen Bereichen hat die klassische Wohlstandsgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Systeme hervorgebracht, die heute nicht mehr haltbar sind.“

Wie lässt sich das erklären? Ganz einfach, mit Zahlen. Die Niederlande, die nicht müde werden, den südeuropäischen Staaten Vorträge zu halten, weil sie ihren Pflichten nicht nachkommen, werden das EU-Defizitziel verfehlen und müssen den Haushalt um weitere 6 Milliarden Euro kürzen, während die Wirtschaftsleistung um 1,25% schrumpft und die Kaufkraft der Bürger um 0,5 Prozent sinkt. König Willem-Alexander vertraut darauf, dass „ein starkes, verantwortungsbewusstes Volk fähig sein wird, sein Leben den neuen Bedingungen anzupassen“.

Grundstein für eine neue Gesellschaft

Es handelt sich nicht um eine einfache Anpassung, die auf außergewöhnliche Umstände zurückzuführen ist. Es handelt sich auch nicht um eine vorübergehende Talsohle, nach der es erneut aufwärts geht und alles wieder so sein wird wie früher. Nein. Es handelt sich darum, tiefgreifende Änderungen vorzunehmen, den Grundstein zu einer neuen Gesellschaft zu legen, das aktuelle Modell, das nun ausgedient hat, zu ersetzen, und den Wohlfahrtsstaat in eine sogenannte partizipative Gesellschaft zu verwandeln.

[[Was ist eine partizipative Gesellschaft? Eine Gesellschaft, in der die Bürger einige Funktionen und Rollen übernehmen müssen, die bislang vom Staat wahrgenommen wurden, insbesondere was ihre Zukunft und die Zukunft ihrer Kinder betrifft]]. Der Staat wird nur mehr die grundlegenden sozialen Dienste bereitstellen, während die einzelnen Bürger einen größeren Beitrag leisten, indem sie für sich selbst und für nahestehenden Personen wie Verwandte, Nachbarn und Freunde sorgen. Daher auch das Attribut „partizipativ“.

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Väterchen Staat kann diese Rolle nicht mehr spielen, weil es seine Finanzen nicht mehr erlauben. Sie erlauben es nicht, weil der Wohlfahrtsstaat auf falschen Daten beruht, ein Betrug ist. Jeder Sozialstaat beruht auf einem Gesellschaftsvertrag: einer Abmachung zwischen allen Bürgern eines Landes, reiche und arme, junge und alte, mit dem Ziel, die Kosten und Nutzen so gerecht wie möglich aufzuteilen. Aber dieses Abkommen wurde von den vorhergehenden Generationen, die die Rechnung zu ihren Gunsten frisiert haben, nicht eingehalten. Nur ein Beispiel, das Bände spricht: In Spanien beruhte die Bemessungsgrundlage der Altersrente anfangs auf dem Verdienst in den letzten zwei Jahren unmittelbar vor dem Rentenantritt, das heißt in der Zeit, in der man am meisten verdient! Dann wurden der Berechnung acht Jahre zugrunde gelegt. So verwundert es nicht, dass der Sozialversicherung der Konkurs droht.

Verantwortungslose Politik

Die aktuelle Lage ist der Verantwortungslosigkeit der Politiker zuzuschreiben, die einen Wohlfahrtsstaat in eine gigantisches Pyramide à la Madoff verwandelt haben, in dem die Leistungen nicht mit den Beiträgen der Empfänger, sondern mit den Geldern der rapide abnehmenden nächsten Generation finanziert werden. Nachdem die kommunistische Utopie zusammengebrochen ist, stürzt nun auch die sozialdemokratische Utopie ein, die Marktwirtschaft und soziale Leistungen aller Art verbindet, deshalb viel solider wirkte und Millionen von Menschen aus Afrika, Asien und Lateinamerika anzog. Aber das europäische Paradies gibt es nicht mehr. Nicht einmal mehr für die Europäer. Bis auf einige Länder wie Deutschland und die skandinavischen Staaten, die rechtzeitig die erforderlichen Anpassungen veranlassten, ist Europa pleite.

[[Wir erleben derzeit einen Wandel, der erfordert, dass wir uns den neuen Gegebenheiten in unserem Land und in der ganzen Welt anpassen]]. Wir können nicht mit denselben Renten weitermachen, wenn die Lebenserwartung immer länger wird, oder mit den automatischen Gehaltserhöhungen, wenn es den Unternehmen, die uns beschäftigen, schlecht geht. Wir können auch nicht staatliche Institutionen aufrechterhalten, die keinem anderen Zweck dienen als dem, Verwandten und Freunden Arbeit zu verschaffen, oder so tun, als ob sich in den letzten Jahrzehnten nichts geändert hätte.

Der Wohlstand verschiebt sich von Europa in die Schwellenländer. Heute wird unsere Mittelschicht von den Menschen herausgefordert, die morgen die Mittelschicht in Asien und Lateinamerika bilden werden. Heißt das, dass wir zu Lebensmittelmarken und dem Elend der Nachkriegszeit zurückkehren werden? Nein. Es bedeutet, dass es der jungen Generation schlechter gehen wird als ihren Eltern, aber immer noch viel besser als ihren Großeltern. Anders ausgedrückt: Wir können nicht mehr ausgeben, als wir haben, was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Auch wenn wir von aufgeblasenen Gewerkschaftsvertretern und linken Politikern umrundet sind, die konservativer denn je sind und verlangen, dass sich nur ja nichts ändert.

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