Die Eurokratie zieht Profit aus der Krise

Die Krise habe der Europäischen Union die Gelegenheit geboten, manchen „schwachen“ Ländern bestimmte Machtbefugnisse zu entziehen, meint die polnische Wochenzeitung Przekrój. Ein Vorgehen, das die Debatte über das „demokratische Defizit“ des europäischen Projekts wieder von neuem entfacht.

Veröffentlicht am 8 Dezember 2010 um 10:38

Irgendwie habe ich den Eindruck, dass wir das alles schon einmal hatten. Ein kleines Land in der Bredouille. Schulden bis zum Hals, nur illusorische Aussichten auf Besserung. Keiner ist bereit, ihm Geld zu leihen. Und die Politiker beteuern, dass alles in bester Ordnung ist, denn schließlich sind ja bald Wahlen. Dann rettet die Retourkutsche aus Brüssel die Situation, denn ein bankrottes Land würde ja die ganze Eurozone mit in die Tiefe reißen. Vor einem halben Jahr war es Griechenland, jetzt ist Irland an der Reihe. Portugal, Spanien und Italien stehen als nächste auf der Liste. Die Wirtschaftskrise der beiden letzten Jahre hat alle Versäumnisse des Projekts Europa brutal offengelegt.

In der Entwicklungsphase der Eurozone ließen die Kreditgeber allen ihren Mitgliedern eine vergleichbare Behandlung zukommen, egal ob unter der Kühlerhaube nun ein paar schlappe PS (Griechenland) oder stolze acht Zylinder (Deutschland) steckten. Als dann 2008 die Krise Einzug hielt, warfen die Kreditgeber doch noch einen Blick unter die Karosserie. Und fanden heraus, dass es in Wirklichkeit gar keinen gemeinsamen europäischen Motor gab.

Mehrere Tage lang wiederholten die Iren stur ihr Motto aus der Zeit des Unabhängigkeitkampfes: „Ourselves Alone“ (Wir selbst alleine). Um dann letztendlich unter dem Druck der wichtigsten EU-Hauptstädte doch zu kapitulieren. Also werden in den nächsten Wochen Dutzende Milliarden Euro an EU-Hilfsgeldern nach Dublin befördert.

Athen und Dublin - Vorreiter wider Willen

Natürlich gibt es nichts umsonst – was auch durchaus verständlich ist. Berlin und Paris haben ihre Unterstützung mit einigen Bedingungen belegt, um jeglicher Verschwendung der gestellten Mittel vorzubeugen. Genau wie im Fall Griechenland besteht der Preis in besonderen Maßnahmen, so müssen etwa Unternehmens- und Mehrwertsteuer erhöht, Haushaltskürzungen vorgenommen und die Löhne im öffentlichen Dienst eingefroren werden. So ein europäischer Kontrollturm, der die Wirtschaftspolitik der Union überwacht und die zu treffenden Budget- oder Steuermaßnahmen vorgibt, scheint eine ganz natürliche, logische Folgerung zu sein, wenn man schon eine gemeinsame Währung hat.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Somit werden Griechenland und Irland – wenn auch nicht gerade aus eigenem Antrieb – zu den Vorreitern der europäischen Integration im Schnellverfahren, die ihnen von den Experten der Europäischen Zentralbank aufgezwungen wird. Damit ist es der Union nun endlich gelungen, ihren Entscheidungsprozess von der durchaus riskanten Etappe der Volksbefragung zu befreien, die den irischen Funktionären in der Vergangenheit einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Eine gesteuerte Demokratie wirft jedoch etliche Probleme auf. Einerseits ist es für viele von uns immer noch selbstverständlich, dass nur diejenigen eine Führungsrolle übernehmen dürfen, die auch in einem ordentlichen Verfahren gewählt wurden. Andererseits wird es in unserer Gesellschaft immer zulässiger, den öffentlichen Bereich vom Einfluss der Wahlen zu befreien.

Ende der 1970er Jahre sprach David Marquand, ein britischer Forscher und späterer Labour-Abgeordneter, von einem „demokratischen Defizit“, um die Funktionsweise der Europäischen Gemeinschaften zu beschreiben. Er lobte zwar die Tüchtigkeit der damaligen Eurokraten, bedauerte jedoch gleichzeitig die unzureichenden Beziehungen zwischen Wählern und Beamten. Er verstand dies als eine Warnung: Die Eurokraten sollten sich nicht des Entscheidungsprozesses bemächtigen, denn dies könne sonst zu einer deutlichen Ablehnung der europäischen Institutionen führen, die von den Bürgern Europas mit einem Fremdkörper gleichgesetzt wurden.

Die Bürokratie braucht keine Bürger mehr

Trotz aller guten Vorsätze geistert dieses „demokratische Defizit“ 30 Jahre später immer noch durch Brüssel. Heute wäre es ein Beweis von Zivilcourage, das gesamte europäische Projekt zum Gegenstand eines Volksentscheids zu machen, selbst wenn der Preis dafür in einer eventuellen Wahlniederlage besteht. Das Resultat einer derartigen Konsultation könnte den Eurokraten jedoch ganz schön viel Ärger einhandeln, vor allem heutzutage, wenn sie unter dem Vorwand der Wirtschaftskrise zusätzliche Machtbefugnisse ergreifen, die bisher den demokratisch gewählten Regierungen vorbehalten waren. Zielscheibe sind natürlich die schwächsten Regierungen, und zwar aus gutem Grund. Trotz der jahrelangen Verstöße Deutschlands gegen die Vorschriften des Stabilitäts- und Wachstumspakts ist niemand in Brüssel auf die Idee gekommen, Berlin mit Haushaltskürzungen oder steuerlichen Maßnahmen zu belegen.

Doch die ersten Widerstandsbewegungen der Mitgliedsstaaten haben begonnen. In der Nacht vom 15. auf den 16. November lehnten die europäischen Abgeordneten zum ersten Mal seit 1988 den EU-Haushaltsentwurf ab. Die Briten widersetzten sich mit ein paar Verbündeten der Europäischen Kommission. Sie weigerten sich insbesondere, über die Einführung einer europäischen Steuer zu debattieren, welche die Beiträge der Mitgliedsstaaten zum gemeinsamen Haushalt reduzieren und zugleich der europäischen Exekutive mehr Unabhängigkeit verleihen könnte.

Würde eine solche Steuer eingeführt, dann bräuchte die Union im Prinzip gar keine Mitgliedsstaaten mehr. Schlimmer noch: Laut Max Weber führt jede konstant fortschreitende Bürokratie (im diesem Fall also die europäische Bürokratie) zu einem gegebenen Zeitpunkt zu einer perfekten Autonomie, die keine Bürger mehr benötigt. Vielleicht liegt dieser Zeitpunkt gar nicht mehr in so weiter Ferne. Wenn die Mitgliedsstaaten nicht vorher selbst ihre Mitgliedsausweise zurückgeben. (pl-m)

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema