Ideen Europawahlen 2014

Europa droht sein eigener Shutdown

Die Europäer staunten über den Stillstand, der die US-Regierung fast zum Bankrott gebracht hätte. Doch sollte den EU-feindlichen Parteien bei der bevorstehenden Europawahl ein Durchbruch gelingen, dann stünde die Union einer ähnlichen Situation gegenüber, meint ein britischer Politikwissenschaftler.

Veröffentlicht am 21 Oktober 2013 um 14:58

Die Europäer waren verblüfft und bestürzt über den Shutdown und den Beinahe-Bankrott der Vereinigten Staaten. Vielleicht waren sie sogar ein bisschen schadenfroh. Schließlich wurden die führenden europäischen Politiker in den letzten Jahren wiederholt lächerlich gemacht und verachtet, wegen ihrer waghalsigen Politik zur dysfunktionalen Eurozone – wieder und wieder brachten sie ihre Wirtschaft an den Rand des Abgrunds, nur um kurz vor dem Öffnen der Märkte einen Rückzieher zu machen.

Doch es könnte Europa eine eigene Version des Shutdowns bevorstehen – nicht ganz so dramatisch wie bei der amerikanischen Regierung, sicher, aber mit ähnlichen Ursachen. Ebenso wie die Tea Party den amerikanischen Kongress in eine gelähmte, sich selbst hassende Institution verwandelt hat, könnten auch die EU-feindlichen Parteien durch ein Bündnis eine ganz eigene Version des Stillstands für Europa hervorrufen, wenn sie nur bei der Europawahl nächstes Jahr genügend Stimmen erzielen. Die europäischen Eliten – und alle Bürger, denen das Schicksal der EU wichtig ist – sollten besser anfangen, sich über dieses Szenario Gedanken zu machen.

Mächtiger denn je

Die USA und die EU haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie sind, wie es im Jargon der Politikwissenschaft heißt, „gemischte Regimes“, mit strenger Gewaltenteilung und zahlreichen Kontrollmechanismen. Das ist eine gute Nachricht für jene, die wollen, dass Gesetze auf breitem Konsens beruhen und generell vermeiden, was James Madison „öffentliche Instabilität“ nannte. Anders als beim Modell in Westminster ist es in gemischten Regimes leichter für eine relativ kleine Zahl politischer Akteure, ihr Veto gegen Änderungen einzulegen. Sie sind auch weniger transparent. Zudem ist es schwieriger, irgendjemanden klar zur Rechenschaft zu ziehen – die Verantwortlichkeit für politischen Aktionismus kann immer irgendwie abgewälzt werden.

Das Europäische Parlament war zwar nie direkt eine hochgeliebte Institution, doch bis vor kurzem war die Wahrscheinlichkeit, dass es dem amerikanischen Ideal gerecht werden könnte, größer. Dies aus dem einfachen Grund, dass die meisten seiner Mitglieder mindestens zweierlei gemeinsam hatten: Sie waren weitgehend EU-freundlich eingestellt und erpicht darauf, die hart erkämpfte Macht des Parlaments zu behüten und, wo immer möglich, zu erweitern.

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Das Parlament ist sogar einflussreicher geworden als den meisten Europäern bewusst ist, und nicht nur bei brisanten Themen wie zum Beispiel dem Datenschutz. Wie Simon Hix, Professor an der London School of Economics, erklärt, werden rund 25 Prozent aller vom Europäischen Parlament vorgeschlagenen Änderungen letztendlich zum Gesetz – mehr als in jedem nationalen Parlament.

Es droht eine „alptraumhafte Legislatur“

[[Entwürfe, mit denen die EU demokratischer gemacht werden soll, konzentrieren sich oft darauf, noch mehr Macht an die EU-Abgeordneten zu übertragen – unter der naiven Annahme, das Parlament werde immer automatisch pro-europäisch sein]]. Doch was wäre, wenn es von einer europäischen Version der Tea Party gekapert würde, einer Gruppe, deren Kampagne den Grundsatz vertritt, das Parlament selbst sei das Problem? Der italienische Ministerpräsident Enrico Letta warnte diese Woche in einem Interview mit der New York Times, dass etablierte, pro-europäische Parteien mindestens 70 Prozent der Sitze gewinnen müssten, um eine „alptraumhafte Legislatur“ zu vermeiden.

Lettas Warnung klingt sehr danach, als bestätige das EU-Establishment eben die Gründe, weswegen die Populisten es verurteilen: Den Wählern wird nur dann mehr Demokratie zugestanden, wenn die Demokratie keine echten Wahlmöglichkeiten aufweist – so oder ähnlich würden die Populisten anklagen. Deshalb ist es wichtig, sich im Klaren darüber zu sein, wo die Gefahren wirklich liegen. Nicht jede Partei, die den Euro kritisiert, ist auch gegen die EU (man denke zum Beispiel an Alternative für Deutschland). Doch eine erhebliche Anzahl wirklich EU-feindlicher Parteien sind einfach destruktiv und leiden unter grundsätzlichen Widersprüchen. Sie erheben Anspruch auf demokratische Legitimität anhand von Stimmen, die sie in der Wahl zum Europäischen Parlament erhalten haben. Gleichzeitig behaupten sie jedoch, letzteres sei nicht demokratisch. Sie wollen das Ganze nur stilllegen (doch idealerweise das Geld und das Prestige behalten, die mit dem Job einhergehen).

„Effekthascherei in der Vollversammlung”

Wie eine aufschlussreiche Untersuchung von Marley Morris zeigte, leisten die Anti-Europäer nur wenig echte legislative Arbeit, sondern betreiben lieber Effekthascherei in der Vollversammlung – die UKIP ist darin besonders begabt. Viele dieser Parteien – die sich in der Fraktion EFD (Europa der Freiheit und der Demokratie) konzentrieren, eine Art Internationale der Nationalisten – haben kein kohärentes strategisches Programm zu bieten.

Die [französische Partei] Front National unter Marine Le Pen (die in den französischen Umfragen für die Europawahl von Mai 2014 als führend gehandelt wird) und Geert Wilders’ immigrations- und islamfeindliche Partei in den Niederlanden versuchen, ein paneuropäisches EU-feindliches Bündnis zu schmieden. Sie könnten gemeinsam effizienter Kampagne führen, würden das Chaos der Dinge jedoch wahrscheinlich noch vertiefen: Manche populistische Parteien wollen mit dem ihnen anhängenden Rassismus nichts zu tun haben. In gewisser Hinsicht hat diese Zusammenhangslosigkeit etwas Gutes, ebenso wie die Tatsache, dass sogar innerhalb der radikalen Rechten regelmäßig Bündnisse zusammenbrechen.

[[Die europäischen Bürger sollten es sich also zweimal überlegen, bevor sie für solche Parteien wählen]], wenn sie nicht wirklich eine dysfunktionale EU wollen. Denn eine andere Politik werden sie nicht bekommen, sondern vielmehr einen Lähmungszustand. Es gibt echte Alternativen – sogar zur Sparpolitik – und es existiert ein ganzes Links-Rechts-Spektrum an Möglichkeiten im EU-Parlament, mehr noch als in vielen nationalen Parlamenten. Protestieren zu wollen, ist demokratisch durchaus legitim – doch es ist auch wichtig, sich und seine Wahlstimme ernst zu nehmen. Ein Shutdown ist etwas für politische Teenager, nicht für Erwachsene.

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