Ein umstrittener Politisierungsprozess

EU-Parlamentspräsident Martin Schulz würde gerne Chef der EU-Kommission werden. Er wirbt mit der Politisierung eines Amtes, das seiner Meinung nach von der oder dem Vorsitzenden der Partei übernommen werden sollte, die als Sieger aus den Europawahlen hervorgeht. Allerdings teilen längst nicht alle in Brüssel diese Meinung.

Veröffentlicht am 4 November 2013 um 12:37

Es lässt sich nur schwer sagen, ob Martin Schulz auch nur den Hauch einer Chance hat, eines Tages das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission zu übernehmen. Offizieller Kandidat jedenfalls ist er seit dem 3. November, und Eines steht fest: Es ist sein Credo. In den Augen des EU-Parlamentspräsidenten muss die „Bestimmung des Nachfolgers” José Manuel Barrosos, die gleich im Anschluss an die Europawahlen im Mai 2014 stattfinden wird, „po-li-ti-siert” werden.

Allheilmittel für mehr Demokratie

Der Meinung des deutschen Sozialdemokraten zufolge wäre dies der beste Weg, um einen Teil des Demokratiedefizits zu beheben, das der Europäischen Union so oft vorgeworfen wird. Auf diese Weise würde man den unterschiedlichen politischen Lagern gestatten, ihren Wahlkampf zu personalisieren. Laut Schulz, dem „europäischen Herrn” der SPD wäre die Wahl eines führenden Kopfes, oder eines „Spitzenkandidaten”, der in der Lage ist, sich in allen Ecken und Enden des Kontinents für ein Programm einzusetzen, das von seinem politischen Lager unterstützt wird, eine Art Allheilmittel, mit dem man auch die Wähler anlocken könnte. [Und das wäre insbesondere zum aktuellen Zeitpunkt vonnöten,] in dem die extremen Parteien mehr denn je ins Wahl-Gewicht fallen könnten.

Schulz, der seinen Worten Taten folgen lässt, hat nicht lange gezögert und sich im Namen der Sozialdemokraten in die Schlacht gestürzt, in der er – sofern es nicht in letzter Minute noch zu einer Überraschung kommen sollte – ihre Farben tragen und sowohl dem rechten Lager als auch den Populisten jeglicher Couleur die Stirn bieten dürfte. [Auch] die Grünen, die bald von Daniel Cohn-Bendit im Stich gelassen werden, folgen dieser Logik. Bis Ende des Jahres wollen sie sogar Vorwahlen im Internet durchführen. Um diese zu gewinnen, hat sich [der französische Politiker] José Bové mit der deutschen Grünen [Rebecca Harms] zusammengeschlossen, der er vor etwa dreißig Jahren auf der Hochebene von Larzac über den Weg lief. Das linksextreme Lager malt sich unterdessen einen Spitzenkandidaten wie den Griechen Alexis Tsipras aus, der die Sparpolitik in seinem Land und die „Männer in Schwarz” der internationalen Geldgeber-„Troika” anprangert. Bei den Liberalen befinden sich dagegen unterschiedliche Kandidaten im Rennen, darunter der EU-Kommissar für Wirtschaft und Währung, Olli Rehn, oder Guy Verhofstadt, einer der Föderalismus-Befürworter des scheidenden Parlaments.

Widerstand aus den Reihen der EVP

[[Die Europäische Volkspartei (EVP), die im derzeitigen Parlament die größte Fraktion bildet, zögert noch]]. Sowohl EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier als auch Viviane Reding, die EU-Kommissarin für Justiz und Grundrechte, träumen beide davon, von ihrer politischen Familie gekürt zu werden. In beiden Fällen wäre es für die EVP ein schwieriges Unterfangen, sich nicht an die Spielregeln der anderen europäischen Parteien zu halten und darauf zu verzichten, einen Spitzenkandidaten in den Wahlkampf zu schicken. Das rechte Lager aber wird sich normalerweise nicht vor Dezember entscheiden. Aufgrund der Tatsache, dass viele das Ganze als „keine wirklich gute Idee” betrachten, würde der konservative Kandidat aber ohnehin erst im März gekürt – bestenfalls –, also gerade einmal zwei Monate vor der Europawahl.

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Und in der Tat ist und bleibt unklar, ob sich die von Martin Schulz erhoffte Dynamik auch wirklich durchsetzen wird. Das Europäische Parlament muss den Präsidenten der Europäischen Kommission zwar wählen, orientiert sich dabei allerdings an dem Vorschlag der Staats- und Regierungschefs, die sich im Rahmen des Europäischen Rates zusammenfinden. Nun wollen diese aber nicht alle ihre Vorrechte teilen – und vor allem nicht Angela Merkel. Sie fürchten, gegenüber dem Europäischen Parlament in Zukunft klein bei geben zu müssen.

Der aus den Reihen der EVP stammende Präsident des Europäischen Rates, Herman Van Rompuy, lässt sich unterdessen keine Gelegenheit entgehen, um den parlamentarischen Ansatz zu kritisieren, den Martin Schulz und viele andere EU-Abgeordnete vertreten. In seinen Augen sollte es – ganz im Gegenteil – die Aufgabe des Europäischen Rates sein, die Nachfolge José Manuel Barrosos in die Hand zu nehmen. Der ehemalige belgische Regierungschef, der für kein einziges Amt kandidiert, befürchtet in erster Linie, dass eine Person wie – beispielsweise Herr Schulz – eine institutionelle Krise heraufbeschwören könnte, weil er zwar im zukünftigen Europäischen Parlament die Mehrheit erreicht, dies aber nicht innerhalb des Europäischen Rates schafft. Oder umgekehrt.

„Parlamentarisierung” gestattet?

[[Mit der „Parlamentarisierung” der europäischen Politik sind nicht alle einverstanden]]. Sollte eine Institution wie die Kommission, deren Aufgabe es ist, sich für das Allgemeinwohl einzusetzen, anstatt die Interessen der einzelnen Parteien zu vertreten, stärker politisiert werden, wie es sich Martin Schulz wünscht? Gar keine so leichte Frage. Die europäische „Exekutive” ist ganz sicher in einer paradoxen Situation: Während dem chaotischen Umgang mit der Krise in der Eurozone wurde sie von den Regierungen und der Europäischen Zentralbank an den Rand gedrängt, erhielt nebenbei aber auch neue Befugnisse, die es ihr erlauben, die Mitgliedsstaaten effizienter zu kontrollieren. Würde ihr Präsident nach einem europaweiten Wahlkampf gewählt werden, wie es die Befürworter dieser Idee wollen, könnte dies [das Image] – und die Legitimität – einer Institution aufpolieren, die nie zu vor derart ins Wanken geraten war.

Allerdings ist das Kollegium der Kommissionsmitglieder selbst bereits ein parteiübergreifendes Team, das als Spiegel der jeweiligen Machtverhältnisse in Europa und der Mehrheiten in jedem einzelnen Mitgliedsstaat fungiert, auch wenn es dabei die strikteste Neutralität wahren sollte. Nun ist es aber so, dass seine Unabhängigkeit und seine Unparteilichkeit immer dann in Frage gestellt werden, wenn es zu einer stärkeren Politisierung kommt.

Folglich ist es einfach unvorstellbar, dass die linke Regierung Frankreichs die Empfehlungen einer rechten Kommission befolgen würde, ohne dabei mit der Wimper zu zucken. Schließlich ist genau das bereits der Fall und könnte sich nur noch mehr verschärfen, wenn der Traum von Martin Schulz oder Michel Barnier Wirklichkeit werden würde.

Aus Polens Sicht

„Kein Bedauern”

Am 25. September hat Kanzlerin Angela Merkel der demokratischen Transparenz einen gehörigen Schlag versetzt: Sie lehnte den Vorschlag der Europäischen Volkspartei (EVP) ab, dem zufolge der zukünftige Präsident der Kommission aus den Reihen der Partei stammen sollte, die bei der Europawahl 2014 die meisten Stimmen erreicht, berichtet der Brüssel-Korrespondent der Gazeta Wyborcza.

Das bedeutet, dass über die „Nachfolge von Barroso ganz sicher infolge undurchsichtiger und geheimer Verhandlungen beim kommenden EU-Gipfel 2014” entschieden wird, fügt der Korrespondent hinzu. Allerdings muss das Scheitern dieses Vorschlags nicht unbedingt bedauert werden, schreibt er weiter und zitiert Agnieszka Łada, die einen Bericht über die Wahrnehmung des Europäischen Parlamentes in Polen mitverfasst hat:

Die Vorstellung, ein Demos – oder ein „europäisches Volk” – bilden zu können, war eine sehr schöne [Idee]. Leider ist sie aber nur ein Wunschtraum geblieben. Berücksichtigt man, dass die Menschen in Polen nicht einmal die Abgeordneten ihres eigenen Parlamentes kennen, kann ich mir nur schwerlich vorstellen, dass sie ihre Stimme für den zukünftigen Präsidenten der [Europäischen] Kommission abgeben werden. Wenn wir Glück haben, wissen sie gerade einmal, für welche Wahl sie ihre Stimme abgeben.

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