Die zweite Neugründung Europas

Die Wirtschafts- und Finanzkrise der letzten 5 Jahren hat eine tiefe Wunde in der Europäischen Union hinterlassen, weil das Misstrauen zwischen den Mitgliedsstaaten gewachsen ist und das Gefühl abnimmt, man teile das gleiche Schicksal. Es ist an der Zeit, das Führungspersonal der EU auszuwechseln und zu handeln, glaubt El País.

Veröffentlicht am 3 Dezember 2013 um 12:41

Der Finanzsturm hat Spuren in der europäischen Seele hinterlassen. Von Norden nach Süden verläuft eine hässliche Narbe durch den Kontinent. An alten und neuen Stereotypen mangelt es nicht: Die Griechen lügen, die Spanier sind ausgelassen und übermütig, die Iren tollkühn und die Deutschen egoistisch. Auch wenn es den Gläubigern und Schuldnern nicht gelingt, sich zu verständigen, so müssen sie doch zur Kenntnis nehmen, dass alle Länder das Schicksal des Euro teilen.

Bis zu dieser Erkenntnis wurden im Rahmen überstürzt gefasster Beschlüsse Gewissheiten in Frage gestellt, Tabus gebrochen, Grenzen überschritten und goldene Regeln neu verfasst. Eine Flut von Maßnahmen ermöglichte, das Schlimmste zu vermeiden, führte jedoch auch zu einer wirtschaftlichen Stagnation mit unvorhergesehenen Auswirkungen. Es folgten fünf lange Krisenjahre und der dringende Verdacht, dass es nie einen übergeordneten Plan zur Bekämpfung des Konjunktureinbruchs gegeben hatte. Nun ist es Zeit für die zweite Neuordnung der Union (nach der Gründung in den Fünfzigerjahren und der ersten Übergangsphase, die vom Mauerfall über die Einführung der Einheitswährung bis zum Beitritt der ehemaligen Ostblockländer reichte).

Bei den zahllosen Gipfeltreffen der letzten Jahre wurde am Ende immer nur Austerität gepredigt. Niemand hat dieses Rezept je in Frage gestellt, obwohl zugegeben wurde, dass Fehldiagnosen für einzelne Länder und die allgemeine Überreaktion, auf das dramatische Ausmaß der Schuldenkrise 2010 zurückzuführen sind. Brüssel änderte die Taktik zwar mit der Zeit, aber das Bruttoinlandsprodukt konnte nur in Deutschland wieder das Niveau erreichen wie vor der Krise.

Aus diesem Grund hat Europa nun auch die Europäer verloren. Sechs Monate vor den europäischen Parlamentswahlen sind dem jüngsten Eurobarometer zufolge 60 Prozent der Bürger von der EU enttäuscht. Vor der Krise waren es lediglich 31 Prozent.

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Hinter dem Horizont

Die Europäische Union war und ist eine Art Vorstoß in ein Gebiet hinter dem Horizont: niemand besitzt eine Karte, um sich auf den verschlungenen in den Labyrinthe namens „Brüssel“ zurechtzufinden. Im ewigen Kampf zwischen dem Möglichen und dem Wünschenswerten muss die EU endlich einen Mittelweg finden zwischen jenen, die meinen, die Turbulenzen würden sich erst in einem Bundesstaat (den unwahrscheinlichen Vereinigten Staaten von Europa) legen, und jenen, die auf die Euro-Version von Coppolas Apocalypse Now zur Musik von Wagner setzen.

„Wahrscheinlich ist, dass es weder Föderation noch Zusammenbruch gibt. Wir werden eine zweite Übergangsphase erleben, mit unvermeidlichen Enttäuschungen wie dem ewigen Versprechen eines hypothetischen Rückzugs der Großen Politik“, so Luuk Van Middelaar, einer der derzeit sicher interessantesten Stimmen in Brüssel. Van Middelaar, Verfasser des einzigartigen Buchs De passage nar Europa und der Reden des EU-Ratspräsidenten Van Rompuy, beschreibt die Union als „permanente Transition“. „Wir müssen die Menschen wiedergewinnen. Ohne übergeordneten Plan und ohne Führung geht das nicht.“

Der Analyst Moisés Naím bestätigt diese Perspektive. „Weder die europäischen Institutionen noch die nationalen Politiker haben genug Macht. […] Europa war stark, als es starke Führer hatte. Die aktuellen Spitzen in Brüssel – Barroso, Ashton und Van Rompuy – sind es nicht mehr.“

[[Nicht die Welt, sondern Europa steckt in einer Krise. Und diese Krise ist nicht nur wirtschaftlich bedingt. Es handelt sich um eine politische, institutionelle und vor allem eine Führungskrise.]] Gleichzeitig rächen sich die Geschichte, die Demografie und die Geografie, indem sie den Mittelpunkt der Welt in einer tellurischen Bewegung in den Pazifischen Ozean verschieben

Ein ganz neues Wesen der EU

Infolge der Politik oder, genauer gesagt, infolge ihrer Abwesenheit, ist die Zukunft ungewiss. André Sapir gehört der belgischen Denkfabrik Bruegel an. Seiner Ansicht nach setzt sich die Eurozone zum Ziel, in den nächsten fünf Jahren die Krise zu überwinden: „Es ist allerdings besorgniserregend, dass es keinen Konsens über Art und Ursachen der misslichen Lage gibt. Deshalb können wir nur hoffen, dass es uns wirklich gelingt, die Krise zu meistern.“

Daren Acemoglu, Autor eines der bedeutendsten Bücher der letzten Zeit – Warum Nationen scheitern – verficht ebenfalls die Idee, dass wir Zeugen der zweiten Neuerfindung der Europäischen Union sind. In einem Gespräch erwähnte Acemoglu zwei Revolutionen in der jüngsten Geschichte Europas, nämlich die Bankenunion und die Vorabprüfung der Haushaltspläne. Besonders die Bankenunion kann das Wesen Europas tiefgreifend ändern. Der Club der Euroländer war immer besessen von der falschen Verwendung öffentlicher Gelder und der Inflation. Der Euroraum stattete sich mit den Kontrollmechanismen des öffentlichen Sektors aus, die, wie Maastricht gezeigt hat, von zweifelhafter Glaubhaftigkeit sind. Es wurde angenommen, Märkte könnten sich selbst regulieren und der Privatsektor bestehenden Mängel selbst korrigieren.

Aber die Krise hat diese Ansicht geändert: „Wenn die Bankenunion wirklich zustande kommt, wird Europa einen tiefgreifenden Wandel erfahren, der ihm helfen sollte, das Gleichgewicht wieder herzustellen“, prophezeit Acemoglu.

Sollte alles gut gehen, wird Europa aufwachen. Vor diesem Hintergrund spielt die Europäische Zentralbank (EZB) als Aufsichtsbehörde eine wesentliche Rolle. „Wir müssen die Staatsfinanzen weiter sanieren und Reformen durchführen, aber mit der Bankenunion rücken auch andere Schwächen in den Vordergrund. Die EZB wird vom Olymp stürzen und in die harte Wirklichkeit eintauchen müssen“, meinte ein Beamter in Brüssel.

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