Wieviel Europa passt in die NATO?

Im Gegensatz zu den Behauptungen seiner Teilnehmer stellt der NATO-Gipfel in Lissabon keinen Wendepunkt dar: Das Bündnis wird weiterhin von einer tiefgreifenden Krise gebeutelt. Nicht nur der Afghanistan-Einsatz erscheint problematisch, sondern man zweifelt weiterhin an der reellen Effizienz gegenseitiger Hilfeleistung im Notfall.

Veröffentlicht am 21 Dezember 2010 um 17:08

Derzeit scheiden sich die Geister von Europäern und Amerikanern eindeutig am Afghanistan-Einsatz. Die heutige Form der NATO verhindert eine Fortentwicklung des Bündnisses und verlangt nach einer tiefgreifenden Reform. Hauptnachteil ist das Fehlen einer klaren Vision über die gemeinsame Bedrohung, die wie zu Zeiten des Kalten Krieges Zweck und Lebensgrundlage einer Allianz von Europa mit den Vereinigten Staaten wäre.

Zwar können die Bündnispartner momentan ihre Allianz mit einer gemeinsamen Vision der Weltordnung begründen, in der die USA mittels der NATO die westliche Welt dominieren und als Garant der Sicherheit fungieren, doch haben die Kriege im Irak und in Afghanistan das Scheitern der amerikanischen Strategie aufgezeigt. Sie bestand darin, das Bündnis unilateral als Knüppel des Westens im weltweiten Kampf gegen den islamischen Terror zu benutzen. Ein Kampf, der eigentlich der NATO einen neuen Impuls hätte geben sollen.

Eine „Europäisierung“ der NATO könnte Konflikte ausgleichen

Eine schrittweise „Europäisierung“ der NATO, die mit einer militärischen Emanzipation der Europäischen Union einherginge, könnte sich als ein Mittel gegen diese Unvereinbarkeit der Interessen zwischen den Bündnispartnern entpuppen. Der durch einen Rückzug der Amerikaner geschaffene Freiraum könnte zu einer „wohlwollenden Hegemonie“ Europas führen, die ihr Potenzial nutzt, um Frieden und eine neue moralische Weltordnung zu schaffen. Und zwar auf Augenhöhe mit den Vereinigten Staaten.

Eine Vision, die in Europa aufkeimt, wie das jüngst unterzeichnete französisch-britische Militärabkommen belegt. Allerdings erscheint das Szenario eines raschen Rückzugs der USA aus dem NATO-Bündnis eher unwahrscheinlich. Ein solcher kompletter Ausstieg würde die Vormachtstellung der USA in der Welt gefährden, wäre eine Gefahr für das globale Mächtegleichgewicht und auch für Europa, das noch Zeit braucht, um ein selbständiges militärisches Standbein aufzubauen, bevor es überhaupt in der Lage ist, eine globale Führungsrolle zu übernehmen.

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Gegenwärtig beruht die amerikanische Vormachtstellung in der Welt auf zwei Säulen: Europa und Japan. Beide sind von der amerikanischen Wirtschaft abhängig, wie es die Finanzkrise nur überdeutlich spürbar gezeigt hat. Sowohl die EU als auch Japan stehen unter militärischem Protektorat der USA, was es Washington erlaubt, sanften Druck auf die Entscheidungsprozesse seiner Schützlinge auszuüben, unter anderem mit dem Verweis auf die mal chinesische mal russische (ehedem sowjetische) Bedrohung.

Der Artikel 9 der japanischen Verfassung schließt jegliche Form einer militärischen Emanzipation aus. Er verbietet die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Beilegung internationaler Konflikte und untermauert den Verzicht auf eine Armee. Und für die EU wird ein eventuelles Streben nach militärischer Autonomie von der durch die USA dominierten Struktur der NATO blockiert.

Ohne gemeinsame Armee wird die EU politisch umherirren

Solange die NATO in ihrer jetzigen Form fortbesteht und die EU militärisch uneins bleibt, kann die Union keinen Anspruch auf den Status des gleichberechtigten Partners auf Augenhöhe mit den USA oder Russland erheben. Von China ganz zu schweigen. Denn es ist immer noch die militärische Macht, die wesentlicher Bestandteil der Außenpolitik Washingtons und des Kremls ist. Es ist frappierend festzustellen, welch einen Druck das ökonomisch viel schwächere Russland nur mit dem Verweis auf seine Streitkräfte und sein atomares Arsenal auf Brüssel auszuüben imstande ist.

Ohne eine Armee und eine gemeinsame Verteidigungspolitik wird die Europäische Union politisch umherirren, ohne Ziel und Richtung zwischen den USA und Russland treibend, gleich einem Schiffbrüchigen. Solange diese Situation anhält, werden weiterhin viele Länder (wie Polen) außerhalb des Alten Kontinents nach einer Schutzmacht suchen.

Die militärische Emanzipation Europas und der Aufbau einer gemeinsamen Armee, die eine künftige „europäische Hegemonie“ stützt, könnten zu einem neuen Mächteverhältnis in der westlichen Welt führen. Es gäbe zwei gleichstarke Supermächte. Eine amerikanische Streitmacht, die von der Europäischen Union temperiert wird, gäbe der westlichen Zivilisation beste Chancen, im Kampf um eine globale Führungsrolle ihren Platz halten zu können. (js)

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