Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban spricht im Parlament zum Beginn des EU-Vorsitzes. 6. Januar, Budapest

Was machen wir nur mit Ungarn?

Ungarn hat den wechselnden EU-Vorsitz übernommen, doch zugleich befürchten viele, dass die ungarische Regierung einen antidemokratischen Kurs einschlägt. The Economist fragt sich, was die Europäische Union in diesem Fall überhaupt tun kann.

Veröffentlicht am 7 Januar 2011 um 17:08
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban spricht im Parlament zum Beginn des EU-Vorsitzes. 6. Januar, Budapest

Die Bedeutung des wechselnden Vorsitzes der Europäischen Union wurde zum Glück seit dem Vertrag von Lissabon sehr heruntergeschraubt. Vorbei die Zeiten, als die Länder, die ein halbes Jahr lang bei den EU-Treffen den Vorsitz führten, versuchten, sich durch aufwendige Events und Kommuniqués über ihre jeweiligen Lieblingsthemen gegenseitig auszustechen. Die Gipfeltreffen verlaufen heute etwas eintöniger, sie werden in Brüssel abgehalten und den Vorsitz führt ein ständiger Präsident, derzeit Herman Van Rompuy.

Doch ab 1. Januar war Ungarn an der Reihe und es hatte keine so bescheidene Ausführung geplant. Das freudige Ereignis wird schon auf der Rollbahn des Budapester Flughafens mit einem großen Banner zelebriert. Der Vorsitz bietet dem vormals kommunistischen Kleinstaat die Chance, sich in Szene zu setzen, und Viktor Orban, Ungarns kampflustiger Ministerpräsident, war sehr daran interessiert, seinen „Moment of Fame“ gebührend zu nutzen.

Orbans Tricks im Scheinwerferlicht

Orban konnte jedoch nicht ahnen, dass sein wichtiger Auftritt ohne Umschweife verunglimpft werden sollte. Vergessen sind seine europäischen Zielsetzungen, wie etwa die Reform des Euro und ein europaweites Programm zur Integration der Roma, im Scheinwerferlicht stehen heute Orbans üble Tricks im eigenen Land: Am 21. Dezember verabschiedete seine Partei Fidesz ein Gesetz, das Rundfunk, Presse und Online-Medien unter die Aufsicht einer neuen Behörde stellt, welche dazu befugt ist, hohe Strafgelder für unklar definierte Vergehen wie den Verstoß gegen die „Menschenwürde“ aufzuerlegen. Alle Mitglieder der Behörde wurden von der Fidesz ernannt.

Die Fidesz will nach eigenen Angaben die Pressefreiheit nicht beeinträchtigen. Und doch veröffentlichten Oppositionszeitungen aus Protest leere Titelseiten. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gab ihrer Beunruhigung Ausdruck. Deutschland, Frankreich und Großbritannien erklärten sich besorgt. Eine deutsche Zeitung nannte Ungarn einen „Führerstaat“.

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Dürfte Ungarn heute noch der EU beitreten?

Ginge es bei dem Aufruhr nur um das Mediengesetz, könnte Orban mit seiner Behauptung, die Bestimmungen leiteten sich von den Gesetzen anderer Demokratien ab, ja noch davonkommen. Doch sein Vorgehen wirkt bedenklich wie das neueste Element einer Kampagne zur Schwächung der unabhängigen Institutionen und zur Zentralisierung der Macht. In ihrem Streben nach einer „patriotischen“ Wirtschaftspolitik lehnte die Regierung die Empfehlungen des IWF ab, plünderte die privaten Rentenkassen, ersetzte den Aufsichtsrat für Finanz- und Haushaltsbelange, versuchte, den Leiter der Landesbank abzusetzen, und begrenzte die Befugnisse des Verfassungsgerichts. Einmalige „Krisensteuern“ alarmierten die ausländischen Investoren. Die in öffentlichen Gebäuden reichlich ausgestellte Propaganda behauptet großspurig, Ungarn habe erst jetzt seine Selbstbestimmung zurückerlangt, obwohl das Land seit 20 Jahren frei ist.

Das ist alles noch keine Rückkehr zum Totalitarismus. Doch diese ungarische Regierung, die immer mehr Macht an sich reißt, wirft eine schwierige Frage auf: Dürfte ein Land, das diesen Kurs eingeschlagen hat, heute der EU beitreten? Eher unwahrscheinlich. Doch bei all ihrem Trommeln für die Demokratie hat die EU weniger Einfluss auf ihre tatsächlichen Mitglieder als auf die Kandidatenländer. Wie ein Diplomat sagte: „Wer der EU beitreten will, muss sauber sein. Doch fängt ein Mitglied an zu stinken, schickt niemand es in die Badewanne.“

Europa unentschlossen

Van Rompuys Geruchssinn ließ ihn jedenfalls im Stich, als er zur Feier des ungarischen Vorsitzes Budapest genau an dem Tag besuchte, an dem das Mediengesetz verabschiedet wurde. Orban, so sagte er, habe einen „ausgezeichneten Eindruck“ gemacht. Die Europäische Kommission rümpfte zwar die Nase und bat Ungarn um eine Klarstellung, ist jedoch nicht scharf auf einen Konflikt.

Die Eurokraten meinen, sie werden Ungarn wahrscheinlich nicht vor den Europäischen Gerichtshof bringen, obwohl die EU-Charta der Grundrechte erklärt, „die Freiheit der Medien und ihre Pluralität“ müsse geachtet werden. Der Kommission zufolge bezieht sich dies auf die Handlungen der EU-Institutionen sowie der Staaten bei der Erlassung von EU-Gesetzen, und nicht auf die Innenpolitik der Mitglieder, selbst wenn wie in Ungarn zweifelhafte Bestimmungen direkt an Gesetze geknüpft werden, die EU-Richtlinien umsetzen. Sozialistische Abgeordnete brachten die „nukleare Option“ auf: die Aufhebung von Ungarns Wahlrechten infolge „ernsthafter und anhaltender Verstöße“ gegen die Grundwerte der EU. Vorerst wird allerdings kein Staat eine derart drastische Maßnahme ergreifen.

Konformitätsdruck ist die beste Lösung

Somit sind die Regeln in der EU heute seltsam verdreht. Die Eurokrise führt zu einer stärkeren Überwachung der Wirtschaft der Mitgliedsländer, mit Sanktionen zur Beherrschung der Haushaltsdefizite. Und doch gibt es keinen vergleichbaren Mechanismus, der von Demokratiedefiziten abhält. Gewiss, Demokratie kann nicht wie öffentliche Anleihen quantifiziert werden. Doch die EU muss vielleicht einen Weg finden, politische Mindeststandards durchzusetzen.

Der Konformitätsdruck ist wohl die beste Lösung. Die europäischen Spitzenpolitiker müssen unverblümter werden. Orban muss in der Öffentlichkeit und privat, bei Ministertreffen und bei intimeren Empfängen dazu aufgefordert werden, sein Verhalten zu ändern. Orban ist in seinem Rampenlicht des nächsten halben Jahres anfälliger. Dieser Vorsitz könnte noch zu einem Fluch für ihn und einem Segen für Ungarn werden.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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