Regueb (Tunesien), 9 Januar. Demonstranten tragen einen Verletzten nach den Zusammenstößen mit der Polizei.

Alles so vorhersehbar…

Trotz aller Korruption, des Nepotismus und der Menschrechtsverletzungen unterstützt die EU die aktuellen Regierungen in Nordafrika. Damit trägt sie eine gewisse Verantwortung für die heute ausbrechenden Unruhen in Tunesien und Algerien. Es ist höchste Zeit, dass Europa eine neue politische Klasse unterstützt, die endlich zugunsten der Bürger handelt.

Veröffentlicht am 10 Januar 2011 um 12:45
Regueb (Tunesien), 9 Januar. Demonstranten tragen einen Verletzten nach den Zusammenstößen mit der Polizei.

Es brodelt in Tunesien und brennt in Algerien, in Ägypten ziehen erste Schauer auf, Marokko und Libyen beobachten ängstlich ihre Nachbarn: Nordafrika wird seit ein paar Tagen von überaus beunruhigenden sozialen Unruhen erschüttert, die doch im Grunde genommen so vorhersehbar waren. Wer konnte denn tatsächlich glauben, dass der Entzug von Freiheiten (Tunesien) oder reichhaltigen Präbenden (Algerien) vor dem Hintergrund der Arbeitslosigkeit, des „No future“ und der zur Lebensweise erhobenen Korruption (Tunesien und Algerien) nicht in einer Ablehnung des Volkes enden könnten, die wiederum in sporadische oder gar allgemeine Unruhen umschlagen würden?

Wie konnten die in ihren mit „hogra“ (algerisch: Verachtung, Missachtung) durchsetzten Despotismus eingezwängten Regime darüber hinwegsehen, dass die zum System aufgerichtete Ungerechtigkeit langfristig einen endlosen Groll nähren würde? Dass die anhaltende und methodische Verletzung der Menschenrechte erst Missmut und dann Erbitterung oder ganz einfach Hass schüren würde?

Auch unsere Verantwortung

Gewiss, es ist noch kein Regime gestürzt, es ist bestimmt auch davon auszugehen, dass kein Regime in seiner Existenz wirklich bedroht ist, solange einzig der Staat auf brutale Gewalt zurückgreifen kann. Erst recht, da die Protest- und Aufstandsbewegungen in Tunesien wie in Algerien unorganisiert bleiben und vor allem spontane Reflexreaktionen der kollektiven Empörung sind.

Doch bei der tragischen Wendung, die die Ereignisse heute einschlagen, lastet schwere Verantwortung auf den Schultern der Europäer. Um es kurz zu machen: Seit den 90er Jahren schließt Brüssel Abkommen mit den nordafrikanischen Regierungen, bei welchen eine Hand die andere wäscht: Wir stehen euch trotz eurer garstigen Fehler zur Seite und unterstützen euch finanziell, bis ihr den Meilenstein der Liberalisierung erreicht, wenn ihr im Gegenzug mit allen euren Mitteln illegale Einwanderung verhindert und radikalen Islamismus im Keim erstickt.

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Sucht die Menschen, die für die Bevölkerung agieren

Botschaft klar und deutlich verstanden, danke. Aber eine ganz schön kurzsichtige Politik! Der 11. September kam diesen arabischen Regimes wahrscheinlich gerade recht und sie begriffen wohl schnell, dass eine geschickte Ausnutzung der terroristischen Ereignisse die wenigen, die nördlich des Mittelmeers noch Vorbehalte gegen eine Unterstützung solch undemokratischer Systeme hatten, umstimmen könnte: „Ihr seht ja, dass wir zur Bekämpfung der Grünen Pest unsere potenten Mittel aufbieten müssen“, wurde da süßlich ins Feld geführt. Die Anschläge von 2004 in Madrid und 2005 in London taten dann das Übrige, um auch die letzten Skeptiker zu überzeugen.

Paris, Rom und Madrid und ihre aufeinanderfolgenden Regierungen aller Couleur spielen seit jeher eine treibende Rolle bei dieser zynischen europäischen Einstellung, die den Extremismus, den sie doch bekämpfen soll, vorantreibt. Doch dank der europäischen Rückendeckung halten diese Regime aus. Es ist höchste Zeit, dass die Europäer innerhalb und auch außerhalb der Regime diejenigen Männer und Frauen in Nordafrika suchen und fördern, die ethisch eine Macht verkörpern können, die nicht gegen, sondern für die Bevölkerung agiert. Diese Leute gibt es.

Aus dem Französischen von Patricia Lux-Martel

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