In seiner Neujahrsansprache hat der bulgarische Präsident versucht, seiner deprimierten Nation Mut zu machen. Er setzte sich für die parteiübergreifende Verfolgung nationaler Ziele ein. Er hätte vielleicht ein einziges Ziel nennen sollen, dass es uns ermöglichen würde, uns an sein endendes zweites Mandat erinnern zu können. Ein leerer Appell. Der Staatschef begnügte sich mit den von ihm seit zehn Jahren praktizierten Floskeln.
Nach dem Beitritt Bulgariens in die NATO [2004] und in die Europäische Union [2007] fehlt es unserem Land an nationalen Zielen: Projekte, die die gesamte Gesellschaft mobilisieren könnten, in der Hoffnung, dass die schmähliche Übergangsphase, die wie eine Dauerkrise erlebt wird, endlich zu Ende geht. Im vergangenen Jahr war die Illusion, die reichen und besser regierten Länder der Union würden uns beim Beitritt in den Euro- und Schengenraum unterstützen, noch quicklebendig. Anfang 2010 wurde die Hoffnung, der Eurozone beitreten zu können, begraben, und Ende des Jahres wurde auch der Schengen-Beitritt vertagt. Was nun?
Muckis, aber nichts im Kopf
Zum ersten Mal in dieser langen Übergangsphase beginnt für unser Land ein Jahr, ohne dass wir im Geringsten wüssten, wo es hingeht. Bulgarien kämpft weiter darum, den Schuldenstand auf unter 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken — eine der Hauptforderungen der Eurozone. Das könnte sogar gelingen, wenn die Regierung dem Gesundheitssystem, der Bildung, der Forschung — und auch den Armen — den Gnadenstoß versetzt. Es wäre damit das einzige Land, dass sich zum „Europäischen Semester [das neue wirtschaftspolitische Koordinierungsprogramm der Union, das die Haushaltsdisziplin der Mitgliedsstaaten überwacht] mit einem ausschließlich für Polizei, Armee, Geheimdienste und Justiz maßgeschneiderten Haushaltsplan präsentiert. Aber für nichts anderes. So gäbe unser Land unter dem Haushalts-Tomographen also ein kurioses Bild ab: Muckis, aber nichts im Kopf. Was haargenau dem Bild unserer politischen Elite entspricht.
In der Schengen-Sache will sich Sofia weiter den Illusionen hingeben. Trotz des Vetos der beiden engsten Freunde von Ministerpräsident Bojko Borisov: dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy und Kanzlerin Angela Merkel. Die Hoffung stirbt immer zuletzt... Bis März wird Bulgarien also „die technischen Anforderungen“ weiter erfüllen und bis September so tun, als würde man personelle und politische Hürden aus dem Weg räumen.
Die technischen Anforderung lassen sich einfach zusammenfassen: der massive Kauf westlicher Technologie und Kontrolle der Grenzen. Das Ganze finanziert von Geldern ebendieser westlichen Länder. Das müsste zu schaffen sein.
Die anderen Bedingungen, die von Frankreich und Deutschland auf dem letzten Drücker gestellt wurden, sind schwieriger zu erfüllen. Es handelt sich dabei darum, die Köpfe des organisierten Verbrechens in Bulgarien hinter Gittern zu bringen. Jene, die Zigaretten- , Spirituosen-, Waffen- und Drogenschmuggel betreiben und illegale Einwanderer einschleusen. Mit ihnen sollen auch ehemalige und noch amtierende Funktionäre in den Knast (darunter auch „Kollegen“ des Ex-Polizisten Borisov), weil sie diesen illegalen Handel geduldet haben oder sogar daran beteiligt waren. Wie jedes Jahr wird die Europäische Kommission sich zweimal über den Fortschritt der Kriterien äußern: beim Zwischenbericht im Februar und in seinem Jahresbericht im Juli. Im September wird dann der Rat Justiz und Inneres der Union sich äußern, ob er mit den Schlüssen des Berichts einverstanden ist oder nicht. Und wie in den vier vorangegangenen Jahren wird er den Bericht abnicken.
Bulgarien, der traurigste Ort der Welt
Spätestens dann wird Borisov seine Schengen-Ambitionen offiziell begraben, es sei denn, dass er bis dahin den noblen Ehrgeiz entwickelt, die Verbrecher zu fassen und einzusperren. Auch jene, die behaupten, zu seinen Freunden zu zählen. Es reicht aber nicht, sie nur zu fassen, sondern es muss auch publik gemacht werden, inwieweit es Kollusionen mit den drei Säulen der Macht gab: Exekutive, Legislative und Judikative. Nur so können diese Gauner wirklich vor Gericht verurteilt werden.
Dass die Regierung einen derartigen Ehrgeiz hegt, scheint aber unwahrscheinlich. Wir können jetzt schon einen Strich durch unseren Schengenbeitritt ziehen. Was bleibt also als Ziel für 2011? Im Grunde nicht viel. Außer vielleicht den Worten des Präsidenten Glauben zu schenken und uns davon zu überzeugen, dass es uns eigentlich gar nicht so schlecht geht, dass unser Land bestimmt nicht „der traurigste Platz der Welt“ ist. [Bei einer jüngsten Studie von The Economistbelegt Bulgarien auf einer Weltrangliste über die Korrelation von Durchschnittseinkommen und Glück der Menschen den letzten Platz]. (j-s)
Kriminalität
Geschenk an die Mafia
Das Verschieben des bulgarischen und rumänischen Beitritts in den Schengenraum sei das „schönste Geschenk“, dass der französische Präsident Nicolas Sarkozy — ausgerechnet — der Mafia in beiden Ländern machen konnte, meint Sega. „Wenn es Gruppen gibt, denen es lieber ist, dass Bulgarien und Rumänien an der Peripherie der Union bleiben, sozusagen in einer Art Grauzone, dann sind es die Vertreter der organisierten Kriminalität. Durch die Verknüpfung der Schengenfrage mit der Existenz dieser Gruppen, liefert er ihnen nur eine günstige Gelegenheit, weiter gegen die europäische Integration anzuarbeiten. Und je aktiver sie sind, umso geringer sind die Chancen, dass die Kriterien Brüssels je erfüllt werden. Korruption erträgt kein Licht. Eine Öffnung der Grenzen zu Europa hätte sie ins Rampenlicht gebracht. In allen EU-Ländern. Auch in Frankreich.“