Ein ”Europa in being”?

Die jüngste Europawahl gab keinen Anlass zur Freude, schreibt der polnische Ökonom Witold M. Orłowski.

Veröffentlicht am 30 Mai 2014 um 10:08

Erstens erlebt die Europäische Union zweifelsohne die tiefste Identitätskrise ihrer Geschichte. Niemand weiß mehr, wozu sie eigentlich dient. Soll sie die Nationen vereinen, damit es nie wieder Krieg auf dem Kontinent gibt und sie geschlossen auf der internationalen Bühne auftreten (was ihre Gründer anstrebten)? Soll sie durch die wirtschaftliche Zusammenarbeit in einem Gemeinsamen Markt für bessere Entwicklungschancen sorgen (was die Briten heute fordern)? Soll sie eine europäische Supermacht aufbauen (was die Verfechter der Föderation wollen)? Oder soll sie vielleicht nur bestimmte Leistungen übernehmen, während die wahre Macht in den Händen der Nationalregierungen bleibt (was die Gegner eines allmächtigen Brüssels verlangen)?
Zweitens haben die Wahlen keine ernsthafte Debatte über die gegenwärtige und künftige Form der Europäischen Union angestoßen. Die Diskussion wurde von radikalen Parteien an sich gerissen, die gegen Arbeitsplätze stehlende Migranten, die Verschwendungssucht der Kommission, die Euro-Kolchose und die Rechte der Homosexuellen in den Kampf zogen. Hinter diesen Slogans verbergen sich zwar echte Probleme, gegenwärtig sollten wir uns jedoch mit wichtigeren Fragen befassen.
Drittens – und das ist auch der wichtigste Punkt – scheint die Zukunft der EU die europäischen Nationen kaum zu interessieren. Es hat sich bis heute kein wahres „europäisches Volk“ herausgebildet und die meisten Europäer halten die Union für ein unbedeutendes Anhängsel des eigenen Nationalstaats und nicht für eine Institution von höchster Bedeutung für ihr künftiges Wohlergehen und ihre Sicherheit.
Trotz dieser tiefen Krise ist Europa noch nicht verschwunden. Es beeinflusst unser Leben, es beeinflusst das Schicksal der Welt. Lord Torrington, ein britischer Admiral aus dem 17. Jahrhundert, schuf das strategische Konzept der bestehenden Flotte (fleet in being). Wenn die Kriegsmarine eines Landes zu schwach ist, um den Feind anzugreifen und ihn zu besiegen, ihm jedoch keinesfalls die Seeherrschaft abtreten will, soll sie im Hafen bleiben, aber bereit sein auszulaufen, sobald sich die Bedingungen ändern. Auf diese Weise kann auch eine schwache Flotte die Kräfte des Feinds schlicht und einfach durch ihre Existenz binden.

Wer weiß, vielleicht stehen wir jetzt vor einem „Europe in being“. Die Union hat keine gemeinsame Energiestrategie, aber allein schon die Möglichkeit, dass sie eine solche Strategie erstellen könnte, veranlasst die Russen dazu, milliardenschweren Verluste zu ertragen und die chinesischen Preise für die Gaslieferungen zu akzeptieren. Europäische Staaten mögen fremdenfeindliche Angriffe tolerieren und riskante Erklärungen abgeben, aber das Europäische Recht verbietet den Verstoß gegen die Grundsätze des Gemeinsamen Marktes. Ministerpräsidenten können zwar Konzernen Investitionen im Ausland verbieten, aber diese Unternehmen profitieren weiterhin von den Chancen, die ihnen die Integration Europas bieten.

Und eines Tages werden wir wieder die Rolle, die Bedeutung und die Funktionsweise der Europäischen Union diskutieren. Auch in Polen.

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