Moskaus zerbrochener Spiegel

Die Europäer hatten sich ausgemalt, dass Putin Russland in eine liberale Demokratie verwandeln und sich Europa annähern würde. Wie die Krimkrise zeigt, unterbindet der russische Staatspräsident jedoch seit seiner Wiederwahl alle Modernisierungsbestrebungen.

Veröffentlicht am 18 August 2014 um 07:58

Im letzten Jahrzehnt stellte sich das demokratische Europa ein Russland vor, das sich mit Haut und Haar der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Modernisierung verschrieben hatte. Die Wirtschaftsentwicklung, so meinte man, würde den Aufstieg einer Mittelschicht fördern, die, wie in vielen anderen Ländern Europas nach dem Kalten Krieg, danach strebt, sich in einem von Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Wohlstand geprägtem Rahmen zu entfalten. Wenn man auch nicht vom Beitritt Russlands zur Europäischen Union träumte, so doch vom Aufbau so enger Beziehungen, dass eine Gemeinschaft „ohne die Institutionen“ entstünde.

Der russische Spiegel zerbrach im September 2009, als Wladimir Putin, der bereits zwei Amtszeiten als Präsident hinter sich hatte, seine Absicht ankündigte, 2012 bei den Präsidentschaftswahlen wieder anzutreten. Michail Gorbatschow, der Putin früher als Reformator begrüßt hatte, fand diese Wendung offenkundig beunruhigend und bat Putin, seine Entscheidung zu überdenken.

Knapp fünf Jahre später können wir feststellen, dass Gorbatschows Sorgen berechtigt waren. Seit seiner Wiederwahl im Jahr 2012 bemüht sich Putin gewissenhaft und systematisch, den Spiegel zu zerschlagen und jegliche Hoffnung auf eine Modernisierung des Landes zunichte zu machen.

[[Statt die Wirtschaft nach außen zu öffnen und das Aufstreben einer unabhängigen Unternehmerschicht zu fördern, konzentrierte er die politische, ökonomische und mediale Macht in den Händen einer kleinen Elite aus Freunden, Oligarchen und ehemaligen KGB-Kollegen]]. Hier kann man wahrlich von einer extraktiven Elite sprechen, das heißt einer Elite, die den politischen und wirtschaftlichen Fortschritt des Landes nicht aus ideologischen, sondern aus rein persönlichen Gründen blockiert, weiß sie doch, dass die Modernisierung des Landes das Ende ihrer Macht bedeuten würde.

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Putins Regime zeichnet sich durch eine beispiellose Konzentration der Wirtschafts- und Medienmacht aus, die zweifelsohne in die Annalen des Autoritarismus eingehen wird. Ihm gelang es in der Tat, eine extraktive Oligarchie, deren Existenz allein der Überlappung eines intensiven politischen Autoritarismus, einer extremen sozialen Ungleichheit und einer übertriebenen Konzentration des Vermögens zu verdanken ist, als demokratisch und populär (weil Putin sehr beliebt ist) hinzustellen.

Russland hat sich allmählich in eine Rentenökonomie verwandelt, in einen Staat, der nicht nur seine Macht auf Rohstoffe stützt, sondern der auch auf dieser Grundlage die Forderung der Bevölkerung nach politischer, wirtschaftlicher und sozialer Modernisierung ignorieren kann.

Der sogenannte „Fluch der Rohstoffe“ machte aus Russland eine sonderbare Kreuzung aus einem bolivarischen Venezuela, das mit den Erlösen aus den Erdöl- und Erdgasverkäufen die sozialen Grundlagen schafft, mit denen die Regierung den Anschein einer Demokratie aufrechterhalten kann, und einer Erdöl-Monarchie, die ihre Legitimität in einem uralten, in Religion, Kultur und historischen Kriegsmythen versinkenden Nationalismus verankert.

Putin ist von nationaler Identität und Nationenbildung besessen, ob er nun die Medien manipuliert, zivilgesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen (zu denen auch die Homosexuellen-Bewegung gehört) schikaniert oder fremde Einflüsse brandmarkt.

Wenn es etwas an Gorbatschow zu kritisieren gibt, dann wohl, dass er nicht genug Weitblick hatte. Putin hat sich nicht darauf beschränkt, Russland zum Erstarren zu bringen und das Land à la Breschnew zu verwalten. Er gab sich große Mühe, ein irredentistisches und revisionistisches Russland aufzubauen, das nun für seine europäischen Nachbarn ein immenses Sicherheitsproblem darstellt.

Putin betrachtet seine Nachbarstaaten als Vasallen, die das Überleben eines vom Westen unabhängigen Russlands garantiert, und verbindet sein Schicksal mit dem der Ukraine, weil er verhindern möchte, dass der Eckpfeiler seines eurasiatischen Projekts wegbricht.

Er steckt in einer Zwickmühle, aus der es keinen Ausweg gibt. Entweder riskiert er eine wirtschaftliche Konfrontation mit dem Westen, die seine Rentenökonomie schwächt, die Oligarchen verarmen lässt und die Öffentlichkeit verstimmt, oder er wird kritisiert, seine Komplizen in der Ostukraine im Stich gelassen und die russische Seele und Identität verkauft zu haben. Welche Entscheidung er auch immer treffen mag, eines ist sicher: Ein Staatschef, der seine gesamte politische Karriere darauf ausgerichtet hat, die von Russland erlittenen Demütigungen zu rächen, wird es nicht zulassen, dass er selbst gedemütigt wird.

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