Da geht's schon wieder los.

Einsamer Latin Lover

Warum muss der Staatschef eines westlichen Landes mit 74 Jahren ein für sich und sein Land solch peinliches Verhalten an den Tag legen, das seine Macht und seine Autorität untergräbt? Und warum haben die Italiener ihn noch nicht davon gejagt? Die Antwort liegt im nationalen Hang zum Exhibitionismus, der auf das Römische Reich zurückgeht, meint der Kolumnist Beppe Servergnini.

Veröffentlicht am 28 Januar 2011 um 12:13
Da geht's schon wieder los.

Zwischen Neugier und Überdruss hin- und hergerissen wollen die Italiener wissen, wie, wo und wie viel? Die Richter fragen: Wer und wann? Aber die sechste Frage taucht hingegen immer noch nicht auf: Warum? Warum verhält sich Berlusconi so? Warum umgibt sich ein so wichtiger Mann, ein Staatschef, mit Kurtisanen und Flittchen? Die nächstliegende Antwort wäre, weil es ihm gefällt. Nicht so sehr der Sex, der ab einem gewissen Alter eine ähnliche Herausforderung wie das Besteigen eines Berges ist, sondern der Anerkennung und ihrer drei Schwestern willen, der Bewunderung, Anbetung, Verehrung.

Die von den Teilnehmern [seiner Festmähler] beschriebene Choreografie weist einige Gemeinsamkeiten mit anderen Situationen auf, die der Hausherr schätzt, wie zum Beispiel die Veranstaltungen junger, weiblicher Parteimitglieder voller Bewunderung, Para-Fernsehzeremonien, brasilianische Nächte und russische Datchas, Villen auf Sardinien und Mailänder Universitäten, die ihn feiern. Silvio B. hat alle Charakterzüge eines atomaren Narziss. Er möchte beklatscht und gewürdigt werden. Einer der Gründe, warum er Journalisten verabscheut — außer in ihrer gezähmten, betriebseignen Version seiner eigenen Zeitungen — ist der, dass ihre kritischen Fragen davon zeugen, dass sie ihn nicht lieben. Unerträglich.

Schuld ist der nationale Exhibitionismus

Der nationale Exhibitionismus — derselbe, der zum neurotischen Zwang führt, bella figura [einen guten Eindruck] zu machen — erreicht bei ihm den Siedepunkt und produziert die Energie, die ihn Schlaf, Vorsicht und gesunden Menschenverstand zur Seite schieben lässt; die ihn dazu verleiten, seine Fernsehprogramme als Köder und Belohnung zu benutzen; die ihn dazu bringen, junge Damen aufgrund ihrer ästhetisch-sexuellen Verdienste als Kandidatinnen vorzuschlagen, sie zu unterstützen, zu beschützen und sie jenseits jedweder Logik zu verteidigen; und die ihn schließlich davor schützt, die groteske Seite dieses Mannes zu sehen, der wie der Darsteller in manchen Filmen und der einschlägigen Literatur allein durch Nachtclubs streift auf der Suche nach Frauen, verkleidet als Krankenschwestern, Lehrerinnen oder Polizistinnen.

Das künstliche Dekor der Party, die Komplimente und die Schmeicheleien, die Parodie der Verführung, die vorhersehbare Versuchung, die Illusion des kostenträchtigen Charmes. B.s Schwäche ist menschlich und italienisch. Doch es liegt etwas Bekanntes/vertrautes in der krampfhaften Sucht nach Anerkennung. Deren Symptome — die im Geschäftsleben und in der Partei, wo Silvio B. gleichzeitig der Dottore und der Presidente ist — sind seit zwei Jahren zum Gemeingut geworden.

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Silvio B. — Wesen zwischen Tiberius und Hugh Hefner

Damals zeugte die Teilnahme an der Geburtstagsfeier der 18-jährigen Noemi Letizia in einem Vorort von Neapel von einem extremen Exhibitionismus. Die Verblüffung in den Augen der Gäste, das war es, dem der reiche und mächtige Mann an jenem Abend nicht widerstehen konnte. Die Inszenierung von Reisen, die Zusammenkünfte und die Erfolge des Hausherren — in seiner Villa in Arcore in der Nähe von Mailand oder im Palais Grazioli, seiner Privatresidenz in Rom — sind weitere Beweise für das gleiche Phänomen. Einige Männer brauchen ein Publikum, um zu funktionieren. Wenn sie es nicht finden, dann kaufen sie es.

In Silvio B. findet sich ein bisschen von Tiberius (nach Sueton) und ein bisschen von Hugh Hefner (durch Playboy unsterblich geworden). So lösen sich die Imperien auf, unter Festen, Ausschweifungen und Versuchen, mit den Kunstgriffen, deren Kenntnisse wir uns im Lauf der Jahre angeeignet haben, die Zeit anzuhalten. Familie, Interessen und beruflicher Erfolg genügen nicht mehr. Man braucht Speichellecker, Verehrerinnen, Sänger und eine gleichzeitig spektakuläre und melancholische Inszenierung, vor allem melancholisch, denn die Melancholie gilt es zu besiegen. Silvio B. ist ein einsamer Mann. Das wird auch er verstehen, sobald er seine Macht verloren hat. Die Preise werden steigen und die Zahl der Freunde wird sinken. Diejenigen, die ihm wohlgesinnt sind, sollten es ihm sagen. Doch vielleicht ist es schon zu spät.

Übersetzung von Signe Desbonnets

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