Ideen Gedenktag zum Ende des 2. Weltkrieges
Dresden, September 1945.

Keine Feier für deutsche Trümmerfrauen

Nach dem Krieg haben zigtausende Frauen geholfen, Deutschlands von Bomben zerstörte Städte wieder aufzubauen. Zugleich waren sie sexuelle Beute für die Befreier. Ihre Arbeit und ihr Leiden wurden jedoch nie anerkannt, schreibt eine schwedische Schriftstellerin.

Veröffentlicht am 8 Mai 2015 um 10:42
Richard Peter/Deutsche Fotothek  | Dresden, September 1945.

Achtung. Der Deutsche ist brutal, wenn er gewinnt, aber weinerlich und hat Selbstmitleid, wenn er verliert. Sie haben einen Hang zur Hysterie. Sie werden feststellen, dass sie unkontrolliert aufbrausen, sobald sich ihnen das kleinste Hindernis in den Weg stellt. [...] Die Deutschen halten uns für arische Cousins, weil wir ähnlich aussehen, äußerlich betrachtet; aber je tiefer Sie in die deutsche Seele eintauchen, desto mehr Unterschiede werden Sie finden.

Die Zitate sind den Anweisungen des Britischen Außenministeriums entnommen, die jedem britischen Soldaten ausgehändigt wurden, der Ende des Krieges in Deutschland ankam.
Wie jeder Reiseführer beschreibt er das politische System – die Gestapo, die SS, usw. – wie auch die deutsche Mentalität und die Länge der Flüsse. Und er endet mit einem obligatorischen Sprachführer: Entschuldigen Sie. Hände hoch! Ein Wienerschnitzel bitte.

Das kleine rote Büchlein, das letztes Weihnachten ins Deutsche übersetzt wurde, wird immer noch auf Der Spiegel Bestsellerliste geführt (Englischer Titel: Instructions for British Servicemen in Germany 1944)

Das Buch ist [wie] ein Zerrspiegel, das sein Thema bis zum äußersten klischeehaft verdreht. Es ist aber auch ein Beleg dessen, womit die Alliierten tatsächlich im besiegten

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Deutschland rechnen mussten.

Die Deutschen werden ausgemergelt, mangelernährt und erschöpft sein und [sie werden] flehen, aber sie können sich nur selbst die Schuld geben. Benehmen Sie sich wie Ehrenmänner – aber haben Sie kein Mitleid.

An diesem Wochenende wird das Ende des Krieges gefeiert.

Aber der Kampf darüber, wie dieser Tag genannt werden soll, geht weiter. Tag der Befreiung? Tag der Kapitulation? Der Entspannung? Der Sieger?

In Schweden sagen wir, dass der Frieden gefeiert wurde. Im restlichen Europa wird unter Frieden etwas anderes verstanden, als sich auf der Kungsgaten [der Hauptstraße in Stockholm] gegenseitig mit Konfetti zu bewerfen. Moralisch und grundlegend ging die Welt in die Brüche. Es gab niemanden, der kein Blut an den Händen gehabt hätte. Europa hatte die Stunde Null erreicht.

Nur wenige sind bereit, sich daran zu erinnern, dass sie ihre Werte verraten haben. Die meisten würden am liebsten ihre Erinnerungen auf den Schrottplatz der Vergessenheit werfen oder sie in einem unzugänglichen Archiv lagern. Die Wahnsinnsidee, Menschen in Konzentrationslager zu schicken, wäre ohne zuverlässige, sogar eifernde Zusammenarbeit eines

Europas, das seinen Verstand verloren hatte, nicht möglich gewesen.

Es gibt einige Unterschiede zwischen Gleichgültigkeit, Feigheit und Angst. [[Zivilcourage ist nichts Angeborenes, sondern eher eine Fertigkeit, die eingeübt werden muss.]] Die außergewöhnlich gut gemachte französische Fernsehserie „Ein französisches Dorf“ [„Un village français“] (die gerade vom Öffentlichen schwedischen Fernsehen SVT2 ausgestrahlt wird) zeigt uns, worum es hier geht.

Manche halten eine neutrale Sichtweise und Bündnisfreiheit für kluge Überlebensstrategien, andere hingegen halten sie für eine immerwährende Schmach. Schmerzlich erinnert uns die Frage daran: Was habe ich getan? Nichts!

Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben.

Wenn ich ein Sieger sein möchte, muss ich ihnen zuhören. Wenn ich aber ein offener und ganzer Mensch sein will, dann muss ich die Besiegten und ihre Gedanken verstehen. Und ich muss über die völlig unverständliche Tatsache nachdenken, dass Denkmäler errichtet und Geschichte geschrieben wird, ohne ein Wort über die Frauen zu verlieren.

Ich denke an die Trümmerfrauen.

An diejenigen, die nach dem Krieg in den Trümmern standen und die Ruinen von der Asche gesäubert haben. An diejenigen, die mit ihren bloßen Händen die Steine in unterschiedliche Eimer sortiert haben. Die die Trümmer aufgehoben, gesäubert, geschleppt und in Stücke geteilt haben.

[[In Berlin alleine befanden sich 75 Millionen Kubikmeter an Trümmern.]] Würde man daraus eine Mauer bauen von fünf Metern Höhe und 30 Metern Breite, dann würden sich die Trümmer über den ganzen Weg von Köln bis nach Berlin (750 km) erstrecken.

Vergessen Sie die Bagger, diese gab es erst ab den frühen 1950er Jahren. Vergessen Sie die Männer, sie waren entweder tot oder Kriegsgefangene – einbeinig, alkoholkrank und traumatisiert.

Wer sind jetzt also die Trümmerfrauen – Verlierer, Sieger oder Helden?

Aber eins weiß man schon lange. Sie waren Beute. [[Als die Befreier ankamen, gehörte alles den Siegermächten. Ganz Berlin wurde zu einem offenen Freudenhaus.]] Miriam Gebhardts kürzlich erschienenes Buch Als die Soldaten kamen ”When the soldiers came” hat uns von dem Trugbild befreit, dass nur die russischen Soldaten vergewaltigt haben. Der deutsche Stolz sollte aus allen deutschen Frauen herausgeprügelt werden, in erster Linie mit der Waffe des Patriachats: sexueller Gewalt.

Wie sollen die Trümmerfrauen „den Frieden“ feiern?

In Grunewald, im Westen Berlins, befindet sich ein Altersheim. Dienstags machen einige von ihnen gemeinsam Gymnastik. Ich darf mitmachen, wenn ich mag und kann danach Würstchen und Sauerkraut essen.

Das will ich. Aber ich habe Angst. Angst vor den Schmerzen und den Gerüchen.

Ich weiß, dass sie ihre Scheiden mit Lysol gereinigt haben, einem starken Reinigungsmittel, um damit die Besatzungsmächte glauben zu machen, sie litten an einer Geschlechtskrankheit.

Ich weiß, dass die medizinischen Helfer mit sich ringen. Wie sollen sie einen Menschen waschen, den niemand anfassen darf? Jemand, dessen Körper Erinnerungen beherbergt, über die keiner jemals gesprochen hat? Wie kann über den Schmerz gesprochen werden, für den die Sieger Dich selbst verantwortlich machen?

Ich bitte einen Kollegen von der Irish Times, mich zu begleiten. Unsere neutrale Tradition – echt oder nicht – funktioniert wie eine Art Türöffner. Und deutsche Frauen bevorzugen junge Männer mit guten Manieren. Und Silvia Sommerlath [der Mädchenname von Königin Silvia von Schweden].

Es ist April und alles ist hellgrün, als wir unsere Motorräder auf der Herthastraße abstellen.
Neun Damen, die alle in den Neunzigern sind, sitzen auf ihren Stühlen und warten auf uns. Einige können sehen, einige können hören und die meisten von ihnen können nur mit Hilfe laufen. Frau Adly führt die Gruppe an, es kostet 2 Euro, um teilnehmen zu können und das Geld wird in einem Sparschwein gespart. Einmal im Jahr leeren sie es und laden sich gemeinsam zu einem weihnachtlichen Mittagsessen und einem kleinen Weihnachtsgeschenk ein. Sie stellt eine Schallplatte mit Musik von Johann Strauss an und beginnt mit ihren phantasievollen Anweisungen, wie wir unsere Körper bewegen sollen.
Wir heben unsere Arme hoch und lassen sie wieder fallen – wie das Flugzeug in den Alpen oder wie die Währung, sagt sie.
Man muss den Feind unter das Kinn schlagen, fährt sie fort, und zwar so – und sie schwingen ihre Fäuste, die übersät von Altersflecken sind, hoch in die Luft im Rhythmus zu der Operette von Strauss, die aus dem Lautsprecher ertönt, Wienerblut – klatsch, Wienerblut – klatsch.
Ich bin zutiefst gerührt, blicke zu dem Reporter von The Irish Times, er sitzt auf seinem Stuhl, klatscht mit in die Hände und hat Tränen in den Augen.
Deutschland gibt Millionen für Statuen und Denkmäler aus. Aber der Wiederaufbau Berlins 1945 wird nicht durch eine Zusatzrente gewürdigt. [[Diese Damen werden nicht zu irgendwelchen Zeremonien eingeladen. Wenn die Miete bezahlt ist, haben sie einen Fünfer übrig.]]
Man kann [dafür] entweder etwas essen, oder mit dem Bus fahren, sagt Frau Adly.
Reden Sie jemals über „den Frieden“, frage ich. Und erhalte keine Antwort.
Wir wurden besiegt. Wir saßen auf dem Boden und sortierten Steine, sagt Frau Görlitz. Man macht weiter, so gut es geht. Man versucht zu vergessen.
Diejenigen, die vom Nazismus zum Stalinismus konvertierten, hatten mehr zu essen. Sobald das Hakenkreuz herausgeschnitten war, wurden die Flaggen rot.
Ich möchte keinesfalls einen jungen Menschen verurteilen, sagt Frau Kopitz. Wenn jemand jung ist, ist er leidenschaftlich und gedankenlos. Schließlich haben noch nicht einmal kluge Leute das Herannahende kommen sehen.
[[Während sie versuchen zu vergessen, bemüht sich die Welt, die Erinnerung zu bewahren.]]
Zu einer Zeit, als Margot Wallström [Schwedens sozialdemokratische Außenministerin] sagte, dass feministische Außenpolitik gelegentlich lächerlich gemacht wird und gelegentlich gelobt wird, ist es lohnenswert, über die Trümmerfrauen nachzudenken.

Wenn Merkel ihren Kranz niedergelegt hat und Putin seine Raketen am „Friedenstag“ über den Roten Platz fährt, werde ich das tun.
Niemals wieder werde ich eine Strauss Operette hören können – ohne zu lächeln.

Deutsche Übersetzung von Karen Gay-Breitenbach, DVÜD

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