Wenn Schwedinnen „nein“ sagen

Es begann damit, dass Schwedens Justiz gegen Wikileaks-Mitbegründer Julian Assange ermittelte. Ihm wird Vergewaltigung und sexuelle Nötigung vorgeworfen, und London soll ihn ausliefern. Im Land selbst tobt unterdessen die Debatte darum, was einvernehmlicher Sex überhaupt ist.

Veröffentlicht am 8 Februar 2011 um 15:59

„Sprich drüber“ oder „prata om det“ auf Schwedisch. Das Wort der Stunde. Überall hört und liest man es, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter, auf Blogs, in Zeitungsartikeln, in Radio und Fernsehen. Es fasst die Debatte zusammen, die derzeit die schwedische Gesellschaft bewegt. Es geht dabei um jene sexuelle „Grauzone“, wo sich das Verhalten zweier Menschen im Geheimnis des Schlafzimmers verliert.

Johanna Koljonen heißt die Frau, die alles ins Rollen brachte. Am 14. Dezember twitterte die freie Kulturjournalistin, bekannt durch Talkshows und Feuilleton, über den Fall Julian Assange. Der WikiLeaks-Gründer macht gerade weltweit Schlagzeilen: zwei Schwedinnen haben ihn wegen Vergewaltigung, sexueller Belästigung und Nötigung angezeigt.

Wenn die Spielregeln sich ändern

Ein Benutzer antwortet Johanna Koljonen und schreibt, dass aus britischer Sicht die Assange-Affäre als ein Justizirrtum auf Kosten des Australiers betrachtet wird. Um 18h07 antwortet ihm Johanna Koljonen sehr persönlich: „Tatsache ist, dass ich selbst eine ähnliche Situation erlebt habe, doch war ich zu naiv, um zu verstehen, dass ich zumindest Grenzen hätte setzen müssen...“ Die Diskussion geht weiter und eine halbe Stunde später wird Johanna Koljonen explizit: „Ich bin im Grunde geschockt, dass ich erst heute begreife, dass ich selber eine Erfahrung mit „Überraschungssex“ gemacht habe.“

Ab diesem Augenblick beschreibt sie im 140-Zeichen-Takt ihre Erfahrung: Eines Abends schläft sie mit einem Mann, einvernehmlich, doch als sie am nächsten Morgen erwacht merkt sie, wie der Mann von ihrem Halbschlaf profitiert hat, um in sie „mit geänderten Spieregeln“, sprich: ohne Kondom, einzudringen. Als sie sich dessen bewusst wird, wagt sie nicht, den Mann abzuweisen. Dieselbe Situation wie sie eine der beiden Schwedinnen, die Assange angezeigt haben, beschreibt. Johanna aber hat nicht Anzeige erstattet. „Weil mir nicht klar war, dass es mein Recht ist, Grenzen zu setzen... auch bei einem Mann, mit dem ich bereits geschlafen habe.“

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Zu diesem Zeitpunkt läuft die Debatte auf Hochtouren. Johanna Koljonen bekommt zahlreiche aufmunternde Nachrichten, man beglückwünscht sie zu ihrem Mut, bewundert, dass sie es wagt, darüber zu reden. Die Sache kommt ins Rollen. Zahlreiche ähnliche Berichte überschwemmen Twitter. Binnen einer Stunde entsteht eine Gruppe, darunter zahlreiche Journalistinnen, die eine Strategie entwickeln. Die zwölf ersten Freiwilligen wollen durchsetzen, dass ihre Redaktion am folgenden Montag einen Erlebnisbericht über den Abstieg in diese Grauzone veröffentlicht. Schneeballeffekt garantiert.

Ja? Nein? Nötigung? - Schweden in der Grauzone

Seither nimmt die Debatte kein Ende. Nötigung oder nicht? Gibt es diese „Grauzone“? Ist es überhaupt möglich, herauszufinden, ob es sich um Nötigung oder schlicht um eine schlechte sexuelle Erfahrung handelt? Die Debatte nahm umso größere Dimensionen in Schweden an, als es zuvor einen Vergewaltigungsfall gab, der das Land 2009 erschütterte ein Schüler wurde der Vergewaltigung einer Mitschülerin verurteilt, einzig nach deren Aussage. Die Bewohner seines Dorfs setzten sich vehement für ihn ein, bis er ein weiteres Mädchen vergewaltigte. Wie im Assange-Fall wurde das Opfer verdächtigt, während der mutmaßliche Täter — in beiden Fällen ein beliebter Mann — blinde Unterstützung erhielt.

In diesem Zusammenhang muss die aktuelle Diskussion, die mitnichten eine juristische ist, verstanden werden. „Nein ist immer nein. Kritisch wird es in den Situationen, wo man eigentlich „nein“ sagen wollte, es aber nicht tat, weil man zu verliebt, zu schüchtern, zu beeindruckt, zu betrunken oder zu müde war, um zu diskutieren“, erklärt Johanna Koljonen Le Monde.

Göran Rudling ist ein fleißiger Blogger, der sich für ein Gesetz zur Einvernehmlichkeit einsetzt, das die Spielregeln klar definiert. „Ein Mann kann kein unausgesprochenes „Nein“ verstehen. Ich behaupte, es gibt keine Grauzone. Ein „Nein“ muss mit Worten oder Gesten verständlich gemacht werden. Derzeit greift das schwedische Recht bei Vergewaltigung, Gewalt und Bedrohung. Überspitzt gesagt, geht das Gesetz davon aus, dass Frauen immer Sex wollen, bis sie „nein“ sagen. Was absurd ist, denn dann müssen sie nachweisen können, das sie „nein“ gesagt haben.“

Musterland der Gleichberechtigung

Was ihm zufolge erklärt, dass entgegen dem Anschein sich die schwedischen Gerichte schwertun, Vergewaltigungen zu verurteilen. Das Problem sei, meint Göran Rudling, dass die Menschen den Unterschied zwischen Wollen und Nachgeben nicht begreifen. „Man kann nachgeben bei etwas, was man eigentlich nicht will“, sagt er um seinen Aktivismus zu erklären. „Sobald eine Frau sich nicht wehrt oder nicht deutlich „nein“ sagt, aus welchem Grund auch immer, geht man davon aus, dass sie zustimmt. Die Männer überhören heute gerne ein „Nein“. Mit dem neuen Gesetz zur Einvernehmlichkeit, müssen die Männer ein deutliches „Ja“ hören, sonst läuft nichts.“

Von Anfang an, hat Johanna Koljonen mit dem Finger auf ein Paradox gezeigt: In Schweden, dem Musterland der Gleichberechtigung mit weit verbreitetem Feminismus, wo sich Frauen mehr als anderswo Respekt erkämpft haben, wie kann es da so viele Missverständnisse geben? Ihre Antwort: „Wir müssen reden.“

Saudi Arabien des Feminismus

Im Fall Assange werfen die beiden jungen Frauen dem WikiLeaks-Gründer ungeschützten Sex vor. In beiden Fällen weist Julian Assange den Vorwurf der Nötigung zurück und behauptet, es wäre alles einvernehmlich geschehen. Dies Missverständnis und die Schlammschlacht, der die beiden Frauen im Internet ausgesetzt wurden — nach dem Motto: sie haben ja nur bekommen, was sie wollten — hat die Debatte in Schweden erst entfacht. Julian Assange selbst hat noch Öl ins Feuer gegossen, indem er Schweden als das „Saudi-Arabien des Feminismus“ beschimpfte.

Sind die Schweden Opfer eines gewissen schwedischen Mythos? In „Zeit mit Monika“ (1953) zeigte Regisseur Ingmar Bergman die junge Harriet Andersson als sexuell freizügige Figur unter anderem beim Nacktbaden: Die Szene bestärkte die Idee einer „schwedischen Sünde“: Schwedinnen sind freizügige Frauen, die leicht rumzukriegen sind. Es lohnt sich aber „Zeit mit Monika“ neu zu interpretieren. Man schaue sich nur die lange Großaufnahme auf den Blick Monikas an, als sie mit einem Mann ins Bett steigt, den sie erst kurz zuvor verlassen hatte. Dieser Blick, sagte Jean-Luc Godard, sei „die traurigste Einstellung in der Geschichte des Kinos.“

Aus dem Französischen von Jörg Stickan

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