Opinion, ideas, initiatives Die Herausforderungen der EU

2016 – das kritische Jahr

Schwache Konjunktur, Flüchtlingskrise, Androhung des „Brexit“, Fliehkräfte… Das neue Jahr erscheint für Europa und eine europäische Führungsriege, die von sich selbst sagt, sie stehe vor „der letzten Chance“ ganz besonders schwierig.

Veröffentlicht am 1 Februar 2016 um 15:42

Bei seiner Wahl zum Präsident der Kommission verkündete Jean-Claude Juncker, dem die Situation ganz klar bewusst war, es handele sich um die Kommission der „letzten Chance“. Scheitert sie, sagte er, wäre das das Ende der Europäischen Union.

Seitdem ist alles so schnell gegangen und das Umfeld hat sich so dramatisch verändert, dass sich die Fristen zweifelsohne verkürzt haben. Das Jahr 2016 markiert in der Tat den Übergang in einen Bereich, in dem alle möglichen Gefahren drohen. Aber genau aus diesem Grund ergibt sich auch eine riesige Chance, diese unendliche Krise, in die Europa verwickelt ist, zu überwinden.

Konstellationen im Universum

2016 neigt sich die als günstig erachtete Konstellation im EU-Universum ihrem Ende zu und beginnt sogar, nachteilige Effekte zu erzeugen. Der Verfall des Ölpreises führt zur Rezession in den Förderländern, allen voran Russland (-4 % BIP in diesem Jahr) oder Venezuela, das gerade einen allgemeinen Zusammenbruch erlebt... Der Rückgang der Zinsen liegt hinter uns, die amerikanische Zentralbank Fed hat die Zinsanhebungsphase eingeläutet und damit alle möglichen Sorgen bei Ländern ausgelöst, die sich in US-Dollar verschuldet haben.

Der Euro verlor zwar 25 % an Wert, dennoch ist die Arbeitslosigkeit nicht wie erhofft gesunken. Trotz der extrem lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) verzeichnet die Europäische Union noch immer eine riesige Investitionslücke: Seit 2007 durchschnittlich -40 Milliarden Euro pro Jahr.
Vor allem – und das war 2015 etwas ganz Neues – zeigen sich neben den alten Einschränkungen und Bruchlinien in der EU neue, die die Bedrohung verstärken und dazu beitragen, die Situation zu erschweren.

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Nord-/Süd-Gefälle

Aus diesem Grund zerbricht derzeit die klassische Teilung in Nord und Süd, in der sich Deutschland und seine Verbündeten und die weniger glücklichen Länder im Süden gegenüberstehen. Zu Portugal, Irland, Griechenland und Spanien muss inzwischen Finnland gezählt werden. Das Land war früher eines der arrogantesten Mitglieder, aber der Höhenflug ist jetzt vorbei. Finnland steckt in einer umfangreichen Rezession und die regierende Rechtskoalition schafft es überhaupt nicht, ihre Anpassungsmaßnahmen – geringere Löhne und Haushaltskürzungen – umzusetzen. Auf der Straße haben die Demonstranten diese Politik bis jetzt blockiert.
Aber dies ist nur ein Teil des neuen Puzzles, das sich gerade formiert. In Wirklichkeit zerfällt der gesamte Block der Länder rund um Deutschland, der Europa bisher dominierte.

Der Osten ist in der Tat gerade dabei, sich abzuspalten. Angeführt von der ultranationalistischen extremen Rechten zeigten Ungarn und Polen angesichts der Flüchtlingskrise, was sie von Europa, seinen Werten und seinen Regeln halten. All diese Länder, die bisher hinter Herrn Schäuble vereint waren und auf „strikte Einhaltung der Regeln“ und Niederschlagung der griechischen Rebellion drängten, lassen unter der Leitung ihrer Regierungen ihren fremdenfeindlichen Affinitäten freien Lauf, die die Union eine Zeitlang erfolgreich unter Kontrolle halten konnte. (Ganz nebenbei: es wäre gut, wenn die Befürworter einer Auflösung der EU darüber nachdächten, was eine Rückkehr zu den Nationalstaaten angesichts der allgemein bekannten akuten Krise für Folgen hätte.)

Die Abspaltung des Ostens

Fügt man zu alledem noch den Druck aus Großbritannien hinzu und die Drohung des Landes, man werde das Boot verlassen, wenn seiner Erpressung nicht nachgegeben werde (was selbst zwischen den europäischen Hauptstädten neue Gräben aufreißt), wird die Spaltung offenkundig und ein Gespräch darüber ist kaum mehr möglich.
Unter der Last der internen und weltweiten Krise, unter der Belastung der Kriege und der Flüchtenden, die sie produzieren, wird Europa entlang der neuen, teilweise sehr tiefen Gräben immer wieder gespalten. Somit findet gerade eine gewaltige Neuausrichtung innerhalb dieses Universums statt, die alle Verfechter einer Rückkehr zu den Nationalstaaten und des „Unter-sich-Bleibens“ jubilieren lässt. Wenn wir tatenlos zusehen, laufen wir in den Abgrund.

Erfolgreich überwinden?

Trüge jedoch die Vernunft den Sieg davon, sähe nicht alles so schwarz aus.
Die Krise schweißt nämlich auch das Europa, das das Erbe von Maastricht und Lissabon vertritt, kraftvoll zusammen und bereitet somit viele Chancen, die zu einem ganz anderen Ergebnis führen könnten, wenn sie denn ergriffen würden. Das erfolgreiche Überwinden der Krise.
Betrachten wir zunächst die Tatsache, dass der Versuch, Griechenland mit aller Macht – und auf höchst infame Weise – in die Knie zu zwingen, überhaupt nichts gebracht hat. Fast nichts. Weder wurde die Bildung einer neuen Koalition (gegen die Sparpolitik) in Portugal verhindert, die als eine der ersten Maßnahmen eine Anhebung des Mindestlohns verkündete, noch die Niederlage des Mariano Rajoy (Lieblingsschüler von Angela Merkel) und mit dem sehr schönen Wahlergebnis von Podemos der Eintritt Spaniens in eine neue Ära. Trotz der Griechenland aufgezwungenen Maßnahmen beharren, zumindest in Portugal und Spanien, die Stimmen gegen die Sparmaßnahmen und die Bevölkerung auf ihrer Meinung und bekräftigen sie!

Gegen die Austeritätspolitik

Wir stellen erneut fest, dass sich mindestens zwei verschiedene, durchaus „autorisierte“ Stimmen erheben und sagen, dass die Haushaltsvorgaben und die Sparmaßnahmen, die die Austeritätspolitik vorschreibt, gelockert werden könnten und gelockert werden sollten. Daher hat die EU-Kommission der [einseitigen Erklärung] (http://www.elysee.fr/declarations/article/discours-du-president-de-la-republique-devant-le-parlement-reuni-en-congres-3/) von François Hollande zugestimmt, dass „der Sicherheitspakt vor dem Stabilitätspakt Vorrang hat“ Ebenso gibt die Mehrheitspartei in Deutschland zu verstehen, dass die Haushaltsvorgaben gelockert werden müssen, damit die Flüchtlinge unter guten Bedingungen aufgenommen werden können. Sicher, all das sind nur Erklärungen. Aber man muss zugeben: von der Europäischen Kommission und der deutschen CDU sind das ganz neue Töne.

Schließlich – und dies ist zweifellos das Wichtigste – ist es höchste Zeit, die Unfähigkeit, in der sich Europa eingeschlossen hat, zu bemessen. Erinnern wir uns an eine wichtige Tatsache: 2015 wird die EU einen Handelsbilanzüberschuss von ungefähr 3,2 % im Vergleich zu ihrem BIP erwirtschaften, davon entfallen 8,3 % allein auf Deutschland. Das sind 2,3 % mehr als die europäischen Regeln vorschreiben, auf die Herr Schäuble so großen Wert legt, aber um die er sich dieses Mal nicht kümmert. Statt zuzulassen, dass dies auf ausländischen Märkten investiert wird oder auf mehr oder minder exotischen Kapitalmärkten verpufft: wäre es nicht besser, wenn eine europäische Politik, die diesen Namen endlich einmal verdient, dieses Kapital in interne Investitionen steckte?

Letzte Chance

Vor allem in den Bereichen Beschäftigung (insbesondere von jungen Menschen), finanzschwache Regionen, ökologischer Wandel, um nur einige zu nennen, fehlt es dramatisch an Ressourcen. Kann die Europäische Investitionsbank (EIB) sich wirklich nicht ins Zeug legen und den „Juncker-Plan“ überdenken und neu dimensionieren, damit die Investitionen endlich dem Bedarf entsprechen?
Ist es nicht Zeit, dass Juncker selbst sich daran erinnert, dass er der „Kommission der letzten Chance“ vorsteht? Dass Europa die Krise erfolgreich meistert ist nicht nur wünschenswert: es ist möglich. Spielräume, sogar große, sind vorhanden. Aber – und das ist noch untertrieben – ob sie bei einer Auflösung der Europäischen Union und einer Rückkehr zu den Nationalstaaten fortbestehen würden, ist keineswegs sicher! Die Zeit drängt. In Europa ist es eine Minute vor Zwölf!

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