Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan.

Abgekartetes Spiel mit Flüchtlingen

Am Ende des Gipfels vom 7. März haben die Europäer und die Türkei sich darauf geeinigt, dass die Türkei Flüchtlinge, die von ihrem Hoheitsgebiet aus Griechenland erreichen, zurücknimmt und dafür umfangreiche Finanzhilfen erhält. Für Cengiz Aktar, dessen Zeitung von Ankara geschlossen wurde, verabschiedet sich die Union damit im Angesicht eines skrupellosen Regimes von ihren Werten.

Veröffentlicht am 9 März 2016 um 07:55
Angela Merkel und Recep Tayyip Erdoğan.

Das hätte fast niemand bemerkt, wenn der türkische Premierminister beim EU-Türkei-Gipfel vom 7. März nicht noch mehr provoziert hätte, indem er am Freitagabend, zwei Tage vor dem „Asylgipfel“ in Brüssel die Zeitungsgruppe Zaman unter Aufsicht stellen ließ.
Der Gewaltstreich bzw. die Erpressung war gewagt. Ankara schien den Europäern zu signalisieren „ich diktiere seit letztem Herbst die Bedingungen und ihr müsst euch beugen: Die Verdoppelung des Sonderzuschusses von 3 Milliarden Euro für die Unterbringung der aus Griechenland zurückgeschickten Flüchtlinge, die Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen, die schnellstmögliche Abschaffung des Schengen-Visums, im Juni, für 78 Millionen Türken; aber die Menschenrechte gehen euch nichts an!
Die Europäer haben sich gegenüber der Türkei ab dem Moment extrem angreifbar gemacht, als sie die falsche Theorie aufstellten, dass die Türkei den Flüchtlingsstrom nach Westeuropa über Bulgarien und Griechenland stoppen könnte. Das war während der apathischen Phase im vergangenen Sommer. Die europäische Kommission fügte sich dem Willen Berlins. Der Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker erklärte, dass die Flüchtlingsfrage Priorität habe und dass alles andere, insbesondere die massiven Verstöße gegen die Grundrechte in diesem künftigen Mitgliedstaat der Europäischen Union, künftig nachrangig sei.
Es stand viel auf dem Spiel: Ankara machte Druck, während die Europäer mit Frau Merkel an der Spitze als Bittsteller auftraten. Die Türkei tat so, als ob sie die Weiterreise der Flüchtlinge stoppen werde und gaukelte einige Maßnahmen vor, tatsächlich schaffte sie es jedoch nicht, irgendetwas zu stoppen.
Die Zahlen sprechen für sich. Während im Jahr 2015 ungefähr 885.000 Flüchtlinge aller Nationalitäten die Ägäis in Richtung Griechenland überquerten, schafften es in den ersten beiden Monaten dieses Jahres über 120.000 durch die nicht existenten Maschen des türkischen Sicherungsnetzes – das seit dem letzten Flüchtlingsgipfel vom 29 November 2015 bestehen sollte.
Das Problem: Einen Menschen aufzuhalten, der um sein Leben fürchtet oder sich in seinem ersten Asylland nicht sicher fühlt, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Man müsste schon unüberwindliche Befestigungen errichten wie z. B. in Nordkorea. Die Syrer, und nicht nur sie, sind in der Türkei selbstverständlich besser dran als in ihrem Heimatland, aber sie sehen in der Türkei keinerlei Zukunft, weil diese ihnen außer einer großzügigen Aufnahme keinerlei Perspektive bietet.
Man muss wissen, dass die Türkei keinerlei ernsthafte Erfahrung mit Asylpolitik hat: Die Türkei unterzeichnete die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 nur mit einem geographischen Vorbehalt und verzichtete damit auf die Möglichkeit, Institutionen für das Asylrecht zu entwickeln, die einen Massenzustrom verwalten können. Anschließend entwickelte sich in den letzten Jahren eine regelrechte Menschenschmuggler-Industrie entlang der türkischen Küsten,deren Umsatz auf mehrere Milliarden Euro geschätzt wird. Gerüchten zufolge sollen Olivenbauern aus ganzen Landstrichen die Arbeit niedergelegt haben, um von diesem Geldsegen zu profitieren. All das von einem Tag auf den anderen zu stoppen ist in der Tat schwierig, wenn überhaupt.
Aber was nun? Die Verhandlungspartner machen sich etwas vor, wenn sie an ein Wunder glauben, während die Flüchtlinge weiterhin das Meer überqueren. Die Europäer lassen sich von der türkischen Effizienz überzeugen, die seit dem 29. November auf übelste Weise belegt ist, und unterstützen sie mit Seepatrouillen der NATO, um wen auch immer abzuschrecken. Ankara träumt seinerseits von einem „Europa ohne Visum“ wie von einem goldenen Wahlversprechen für den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der die absolute Macht anstrebt.
Was die Europäer in ihrer überstürzten Suche nach einer Lösung der Migrationskrise vermeiden wahrzunehmen, sind die faschistischen Umtriebe seit den Gezi-Protesten im Mai und Juni 2013. Diese Umtriebe traten mit den Korruptionsvorwürfen gegen hochrangige Politiker im Dezember 2013 deutlicher zutage.
Seit 2013 geht nichts mehr und die Türkei des Präsidenten Erdoğan ist in eine Spirale aus Gewalt und Autoritarismus geraten, in der jeder Gesetzesverstoß einen noch größeren Gesetzesverstoß nach sich zieht, um den ersten zu verschleiern. Verschleiern im übertragenen Sinne, aber auch ganz real durch die Knebelung der Presse. Tatsächlich gibt es in diesem repressiven Umfeld keinen Raum für eine freie Presse und die Zeitungsgruppe Zaman ist das letzte Opfer in einer schwarzen Reihe von gegängelten Zeitungen und Fernsehsendern, sowie der systematischen Unterdrückung der sozialen Netzwerke seit 2013.
Die Einschätzung der Türkei spricht Bände. Für Freedom House rangiert die Pressefreiheit des Landes in der Kategorie „nicht frei“ und die Freiheit im Internet in der Kategorie „teilweise frei“.
Reporter ohne Grenzen sieht die Türkei auf dem 149. Platz von 180 Ländern, noch hinter Niger, Liberia, Sambia, Mali und Simbabwe.
Und dabei handelt es sich nur um die Pressefreiheit. Was die Grundfreiheiten betrifft, die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind, steht die Türkei auch nicht besser da – allein gemessen am Bürgerkrieg in der türkischen Kurdenregionen. Tatsächlich steht die Türkei in puncto der beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereichten Individualklagen im Jahr 2015 an erster Stelle .
Letzten Endes hat der unmoralische Deal, den die Europäer unter Führung der Deutschen mit der Türkei schließen wollen, nur einen einzigen „positiven“ Effekt: Die Kandidatur und den Beitritt Ankaras zur Europäischen Union kann man auf ewig vergessen. Der Antrag auf Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Brüssel ist Augenwischerei, denn das Land erfüllt so gut wie kein Beitrittskriterium mehr, schon gar nicht bei den Menschenrechten. Die von der Türkei begangenen Übergriffe nicht sehen zu wollen und gleichzeitig mit dem Land zu verhandeln ist nichts anderes, als die Türkei wie einen Drittstaat zu behandeln und nicht wie ein künftiges Mitglied der Europäischen Union; und es stellt einen Verzicht der demokratischen Wertes des Letzteren dar.
Im Gegenzug enthält die Vereinbarung Überraschungen, die sich bald erfüllen werden: Anstatt die Syrer zu stoppen und die Augen vor den Übergriffen des türkischen Regimes auf die Menschenrechte zu verschließen, werden die Europäer wohl bald türkische und kurdische Flüchtlinge aufnehmen müssen, die vor genau diesen Menschenrechtsverletzungen fliehen ...

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