Opinion, ideas, initiatives Vereitelter Putschversuch in der Türkei

Die Putschisten haben Erdoğan das Regime seiner Träume verschafft

Schon am Morgen nach dem gescheiterten Putschversuch begannen Säuberungen in der Armee und der Justiz sowie im Bildungssystem und in der Presse. Der selbsternannte „Held der Demokratie“ hat somit die Gelegenheit ergriffen, das Land zu unterwerfen, erklärt der Türkisch Politologe und Journalist Cengiz Aktar.

Veröffentlicht am 22 Juli 2016 um 16:12

Am 7. Juni 2015 verlor die Partei von Recep Tayyip Erdoğan, dem starken Mann der Türkei, bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. In der bedrückenden schwarzen Serie der Türkei, die seit dem Juli 2015 andauert, fehlte eigentlich nur noch ein Putsch. Die Wahlen wurden in einem schädlichen Klima der Gewalt wiederholt, um im vergangenen November der Regierungspartei AKP (Partei für Recht und Entwicklung) wieder die Mehrheit zu verschaffen.

Es scheint, dass selbst der Wahlsieg vom November 2015 nicht ausreichte, um die Türkei zu stabilisieren. Sie wird erschüttert vom Krieg gegen die Kurden, den Folgen des Bürgerkriegs in Syrien, einer zweideutigen Beziehung zum radikalen Islam und dem IS, der spektakulären Isolation in der Welt und in der Region, immer angespannteren Beziehungen zu den westlichen Aliierten, einer Volkswirtschaft, der langsam die Luft ausgeht und einem immer autoritäreren, wenn nicht gar totalitären Regime des Präsidenten Erdoğan.

Wir erinnern uns: Die erste Bombe explodierte in Suruç (34 Tote, über 100 Verletzte), gefolgt von Anschlägen im Bahnhof von Ankara (109 Tote, über 500 Verletzte), Sultanahmet (13 getötete Touristen, 14 Verletzte), Militärbezirk Ankara (29 Tote, 61 Verletzte), Ankara Güvenpark (36 Tote, 125 Verletzte), Istanbul Avenue Istiklal Istanbul (4 getötete Touristen, 36 Verletzte), Antep (3 Tote, 23 Verletzte), Istanbul Vezneciler (12 Tote, 36 Verletzte), Atatürk-Flughafen (36 Tote, meist Touristen, 147 Verletzte) und nun folgte der Militärputsch mutmaßlicher Gülen-Anhänger [Anhänger des Exil-Predigers Fethullah Gülen, Erzfeind Erdoğans und ehemaliger Weggefährte] und Kemalisten [Anhänger der von Mustafa Kemal Atatürk propagierten laizistischen Republik].

Die Art und Weise, in der dieser X-te Putsch seit 1960 – manche waren erfolgreich, andere wurden niedergeschlagen – durchgeführt wurde, entspricht nicht ganz der jahrhundertelangen Erfahrung der türkischen Armee in diesen Dingen. Er erinnerte eher an Staatsstreiche in Afrika, die von Splittergruppen innerhalb der Streitkräfte geschürt werden. Zunächst war da die noch nie dagewesene Gewalt. Ein Putsch ist zwar nie eine pazifistische Angelegenheit, aber hier gab es fast willkürliche Gewalt – das belegen die Massenhinrichtungen, der Panzer der Putschisten, der alles niederwalzt, was sich ihm in den Weg stellt. 265 Menschen aller verschiedenen Strömungen sind ums Leben gekommen und es gab rund 1500 Verletzte.

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Darüber hinaus war dieser Putsch (glücklicherweise) sehr unbeholfen: die wichtigsten Führungskräfte des Landes blieben außen vor, statt dessen wurde das Parlament mit Jagdflugzeugen bombardiert und man ließ zu, dass die Erdoğan unterstützenden Medien auf Sendung blieben und so zum Widerstand aufriefen. Man sollte nichts durcheinanderbringen:

Der Putsch wurde weder durch den Aufruf der politisch Verantwortlichen zum Widerstand noch durch die Generaldirektion für religiöse Angelegenheiten (wie Erdoğan pro-sunnitisch) abgewendet, die den Imamen nahelegte, sie mögen die Bevölkerung zum Widerstand gegen den Putsch aufrufen. Wenn man es genau betrachtet, sind die Streitkräfte als Ganzes dem Aufruf zum Putsch nicht gefolgt und sowohl die Polizei als auch die Geheimdienste haben den Staatsstreich erfolgreich verhindert.

Die Türkei hat, im Gegensatz zu Spanien nach der Franco-Ära, ihr politisches System nicht „entmilitarisiert“, um das Militär in den Dienst des Staates zu stellen. Zu Beginn ihrer Regierungszeit nutzte die AKP geschickt die Vorgaben der Europäischen Union, um den politischen Einfluss des Militärs erheblich einzuschränken. Sie „zivilisierte“ militärische Instanzen wie den nationalen Sicherheitsrat – eine Bedingung der EU für den Beitritt. Ferner übernahm die Partei das militärische System der Beförderungen und Postenverteilung.

Die rechtliche und finanzielle Autonomie der Armee wurde jedoch nie angetastet. Das Militär behielt sein eigenes internes Rechtssystem und erhielt regelmäßig, am Beginn jedes Steuerjahrs, seinen Blankoscheck, für den keinerlei Rechenschaft abgelegt wird. Das Regime hat auf diese Weise eine Vasallenarmee geschaffen, und diese war damit zufrieden, ihre Privilegien zu behalten und dabei dem Regime ihre Loyalität zu versichern.

Darüber hinaus konnte die AKP in ihren 14 Jahren an der Macht einen militärisch-industriellen Komplex errichten, in dem der AKP wohlgesonnene Geschäftsleute und Militärs Hand in Hand arbeiten. Last but not least hat die Regierung die Unteroffiziere weitgehend nach ihrer Fasson „islamisiert“ und die Aleviten [säkulare schiitische Bewegung, in der Türkei weit verbreitet] so weit wie möglich aussortiert. Blieben noch die Gülen-Anhänger und die Kemalisten. Sie sind jetzt im Fadenkreuz.

Tatsächlich begann das Regime sofort nach dem Putsch mit Säuberungen im Militär und hatte dabei offensichtlich die Putschisten im Visier – aber ebenso in der Justiz. Bis heute wurden über 60 000 Beamte des Justizministeriums, des Innenministeriums, des Bildungsministeriums, des Umweltministeriums, des Sozialministeriums und des Verteidigungsministeriums von ihren Posten entlassen, verhaftet oder es wurden gerichtliche Untersuchungen gegen sie eingeleitet. Die Regierung versprach auch, die Todesstrafe wieder einzuführen und ließ ihre Milizen mit „IS-Methoden“ vorgehen.

Nicht nur gegen die Putschisten (In der Türkei extrem selten: sogar ein Vier-Sterne-General wurde zusammengeschlagen), sondern auch gegen jeden Hauch von Opposition gegen das Regime. Seit einigen Tagen wurde der Zugriff auf unzählige Nachrichten-Websites im Internet mit dem Vorwurf gesperrt, sie stünden der Gülen-Bewegung nahe. Das Regime scheint entschlossen, die Gülen-Bewegung überall auszurotten, wo es sie findet. Der Rest der Opposition dürfte folgen.

Nach der Zerschlagung des Militärputsches wird die Türkei nicht demokratischer, trotz unbeholfener Erklärungen aus dem In- und Ausland. Das politische Gleichgewicht in der Türkei schwankt schon seit Langem nicht mehr zwischen Demokratie und Diktatur sondern nur zwischen zwei verschiedenen diktatorischen Regierungsformen. Tatsächlich fühlt sich das Regime derzeit ausreichend gestärkt, um verfassungsrechtlich ein starkes Präsidialsystem ohne Einschränkungen der Macht oder Gegenkräfte nach dem Vorbild Wladimir Putins durchzusetzen.

Damit haben die putschenden Militärs, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit, ihren Beweggründen und ihren Zielsetzungen, Erdoğan das Präsidialsystem, von dem er seit 2010 träumt, auf einem Silbertablett serviert. Für den „Helden der Demokratie“ geht es ab jetzt darum, den Prozess der Präsidentenwahl per Volksabstimmung (oder vorgezogene Wahlen) anzustoßen, die er sicherlich gewinnen wird. Indem sie den 15. Juli demonstrativ zum Tag der Demokratie erklärt, krönt die Regierung ihre neue Legitimität und macht ihre absolute Macht geltend.

(Aus dem Französischen übersetzt von Heike Kurtz, (DVÜD)

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