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Ein Grafitti in Kairo, das die ägyptische Revolte feiert. Februar 2011.

Was auf Europa zukommt

Terrorismus, Einwanderung und Wirtschaft: für die Europäer ist die Welle von Revolten, die die arabischen Welt erschüttern, voller schwer einzuschätzender Gefahren. El País hat versucht, Richtig und Falsch zu entwirren.

Veröffentlicht am 21 Februar 2011 um 16:23
Ein Grafitti in Kairo, das die ägyptische Revolte feiert. Februar 2011.

Es gibt nur wenige, die sich trauen auszusprechen, dass die jahrzehntelange Unterstützung der Diktaturen am südlichen Ende des Mittelmeeres ein schwarzer Fleck in der eigenen Geschichte ist. Die arabischen Revolutionen der letzten Wochen sind unter anderem auch eine Folge dieser Einstellung. Das schliesst aber keineswegs aus, dass die Sorgen, die diese Politik des Westens motiviert haben, durchaus Reaktionen auf ganz reale Gefahren waren und bis heute noch sind. Der Traum von der Demokratisierung der arabischen Welt ist an sich eine beflügelnde Vorstellung, deren Umsetzung sich aber als ein Weg erweist, der gesäumt ist von erschreckenden Abgründen, die diese verschlucken könnten, wie einige bereits befürchten und andere sogar wünschen.

Die Vorstellung, die am meisten gehört und beschrieben wird, ist die, dass im Zuge der politischen Transformation islamistische Kräfte an die Macht gelangen könnten, die Israel und dem Westen feindlich gesonnen sind. Nichtsdestotrotz gibt es Hinweise, dass diese Möglichkeit, zumindest kurzfristig, nicht eintreten wird. Zunächst, weil die Proteste in diesen Wochen von Heeren von Jugendlichen initiiert werden, die für offene und tolerante Gesellschaften eintreten und diese in Ländern stattfinden, wo der Islamismus bislang keine herausragende Rolle gespielt hat. In Europa aber gibt es Stimmen, die besagen, dass man sich durchaus um die instabilen Übergangszeiten sorgen muss, vor allem hinsichtlich einer möglichen Terrorgefahr, Einwanderungswellen, Drogenrouten, der wirtschaftlichen Stabilität sowie der Energieversorgung.

Diese Risiken gibt es zweifelsohne, aber einige Experten sind der Ansicht, man sollte sie nicht überbewerten, denn die Wahrscheinlichkeit, dass einige dieser Bedrohungen tatsächlich wahr werden könnten, doch eher begrenzt sei. Das ist ein Grund mehr, die Risiken des Demokratisierungswillens mit Vorsicht zu betrachten. Denn es gibt mittlweile andere Szenarien, die besorgniserregender sind:

- Terrorismus. Die Länder Nordafrikas haben in den letzten Jahrzehnten als Keimzellen für Terroristen fungiert, die Attentate an den Küsten verübt haben und auch immer häufiger für Geiselnahmen westlicher Bürger im Sahelgebiet verantwortlich waren. Salafistische Gruppierungen in Algerien haben sich im islamischen Maghreb mit der Al Quaida zusammengetan. Bislang wurden diese Gruppierungen aber immer aufgespürt und gebannt, sodass es nicht gelungen ist, den Terror auf den europäischen Kontinent auszuweiten. Der Übergang aber von autoritären Staaten hin zu laizistischen und prowestlichen und pluralistischen Staaten, die gleichzeitig weniger stabil und durch brutal Repressionen gekennzeichnet sind, birgt auch viele unbekannte Gefahren.

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“Bis jetzt waren die arabischen Regime Gift und Gegenmittel in einem”, sagt Mathieu Guidère, Hochschullehrer und Verfasser mehrerer Forschungsarbeiten über den islamistischen Terrorismus. “Das Fehlen von Freiheit, die Unterdrückung und die Korruption haben dem Islamismus den Boden bereitet, aber gleichzeitig haben diese Regime das islamistische Phänomen auch effizient bekämpft”. Was wird nun als nächstes geschehen? “Ich bin pessimistisch, was die Völker angeht und optimistisch, wenn es um die Terrorismusbekämpfung geht. Ich glaube, dass die Militärs dieses revolutionäre Aufbegehren steueren werden und am Ende die Macht an sich reissen. Dieses Vorgehen sichert die Kontinuität im Kampf gegen den Terrorismus”, so Guidère.

- Einwanderung. Tausende verzweifelte Tunesier, die nach dem Sturz des Regimes mit Booten in Richtung Italien aufgebrochen sind, haben in Europa die Alarmglocken hinsichtlich eines möglichen Massenexodus' von Afrika nach Europa läuten lassen. Die wahrscheinlichere Interpretation dieser Massenflucht erscheint hingegen die einer Flucht der Regimetreuen, die Angst vor Verfolgung haben, bemerkt Philippe Fargues, Direktor des Zentrums für Migrationspolitik am Europäischen Hochschulinstitut.

Über den Fall Tunesiens hinaus ist allgemein die Annahme besorgniserregend, dass es zu einem lange andauernden Chaos gepaart mit dem Kontrollverlust der Polizei kommen könnte, was dann zu Massenflucht und zur massiven illegalen Einwanderung führen würde.

“Zwei Faktoren spielen bei der Auswanderung aus den Ländern Nordafrikas eine besondere Rolle”, sagt Fargues. “Der eine ist wirtschaftlicher Natur und beruht auf Arbeitslosigkeit und schlechter Bezahlung; der andere ist politisch und hängt mit dem Mangel an Freiheit zusammen. Nur in Fällen besonders großer Instabilität führt der Fall von autoritären Regimen dazu, dass die Lebensqualität stark sinkt und deshalb die Auswanderung begünstigt.”

Wirtschaftlich ist der Übergang zur Demokratie nicht zwangsläufig mit einem Aufschwung gleichzusetzen. Aber es ist auch nicht zu erwarten, dass sich die Situation maßgeblich verschlechtert und die Auswanderung zunimmt. “Andererseits aber”, fügt Fargues hinzu, “muss man berücksichtigen, dass die polizeiliche Kontrolle nachlässt und die illegale Auswanderung zwar medial sehr breit beachtet wird, aber letztlich nur eine marginale Form der Auwanderung darstellt. Die Mehrheit reist per Flugzeug und mit einem Touristenvisum aus!”

- Wirtschaft. Europa importiert 30% seines Bedarfs an Erdöl und Gas aus den Ländern der arabisch-persischen Welt. Mögliche Szenarien eines langanhaltenden Chaos' und der Gewalt könnten dann zu einer ernsthaften Lieferknappheit führen. Aber auch die politische Instabilität führt schon zu erheblichen Konsequenzen. Der Erdölpreis lag Mitte Dezember vergangenen Jahres, also vor den Aufständen, bei 91 Dollar. Am letzten Freitag, dem 18. Feburar, war er bereits auf 103 Dollar geklettert. Es gibt Stimmen, die eine Einschränkung des Verkehrs im Suezkanal befürchten oder die Machtübernahme durch Regime, die die Lieferverträge neu verhandeln könnten oder sich ihre Kunden neu aussuchen könnten. Es liegt auf der Hand, dass derartige Szenarien wenig realistisch sind.

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