Protestplakat eines Demonstranten vor der libyschen Botschaft in Istanbul.

Pest oder Cholera, Europa?

Von Anfang an hatte Europa ein Problem mit den arabischen Revolten. Die blutige Repression des libyschen Volks durch Gaddafis Regime macht diesen Missstand nur noch flagranter, stellt die europäische Presse fest. Sie fordert konkretes, koordiniertes Handeln.

Veröffentlicht am 22 Februar 2011 um 15:28
Protestplakat eines Demonstranten vor der libyschen Botschaft in Istanbul.

Tunesien, Ägypten und jetzt Libyen. Seit zwei Monaten blickt die Europäische Union auf die Protestwelle in der arabischen Welt und befragt sich selbst über ihre Rolle und die Konsequenzen der Ereignisse. Diesmal verleiht jedoch die brutale Repression des Volkes durch das Regime von Muammar Gaddafi dieser Fragestellung eine tragische Dimension.

„'Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte'“, schrieb ein gewisser Karl Marx vor 160 Jahren. Ein schönes Bild. Vor allem, wenn man dieser Tage auf die Europäer blickt, die bei der rasenden Fahrt der arabischen Welt auf einem billigen Platz dritter Klasse im letzten Wagon mitreisen“, schreibt Der Standard. „Bisher haben sie wenig mehr als besorgte Erklärungen zusammengebracht. [...] Aber nun, in Libyen, wird Betroffenheitsrhetorik allein nicht mehr genügen.“

Energie, Handel, Partnerschaft beim Eindämmen der Migrantenströme aus dem Süden – die Tageszeitung aus Wien zählt auf, inwiefern Europa von Gaddafis Regime abhängig ist. Weiter stellt Der Standard fest, dass sich Europa schwer damit tut, seine Interessen vor Ort zu verteidigen, und weder über finanzielle noch über militärische Druckmittel oder über einen „akkordierten Plan“ zu diesem Thema verfügt

Schwarzfahrer der Geschichte

Ein Marshall-Plan für die Regionen südlich des Mittelmeers, wie ihn der italienische Außenminister Franco Frattini fordert, wäre nur sehr langfristig wirksam, ebenso wie die Milliarden, die Catherine Ashton im Gepäck hat, wenn sie die betroffenen Länder bereist. Dasselbe gilt für Algerien oder Marokko, wo es um ähnliche Interessen geht. „Wenn der Schaffner die Europäer in diesem Zug nach ihrer Fahrkarte fragt, dann müssen sie wohl einräumen, dass sie im Entstehen dieser Geschichte als Schwarzfahrer mit dabei sind. Das ist nicht nur peinlich. Das politische Bußgeld, das dafür zu entrichten sein wird, wird Europa sehr teuer zu stehen kommen“, meint Der Standard.

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Tatsache ist, dass sich die Europäer in einer unmöglichen Situation befinden, so liest man in der Gazeta Wyborcza. In Libyen sind sie soweit, dass sie sich fragen müssen, ob „die Pest oder die Cholera“ schlimmer ist, wie die Warschauer Tageszeitung bemerkt. „Sollen wir einem gezähmten Terroristen weiter beistehen und uns in der Illusion wägen, dass die Demonstranten nach ein paar Reformen wieder nach Hause gehen und das Regime der eisernen Hand durch den Pluralismus ersetzt wird? Oder sollen wir mit ihm abschließen und lieber seine Gegner finanziell oder auch militärisch unterstützen? Europa ist in einer Sackgasse. Einerseits kann es nicht tatenlos dabei zusehen, wie Gaddafis Söldner den Leuten in den Rücken schießen. Und andererseits befürchtet es, die Leere nach Gaddafi könne noch schlimmer sein.“

„Das Problem ist“, so die Gazeta Wyborcza weiter, „dass Nichtstun schlimmer wäre, denn Europa trifft hier auf seine größte Herausforderung seit dem Zusammenbruch Ex-Jugoslawiens. Das ist ein enormer Test für Europas globalen Status und eine Chance, seine ‚Soft-Power’ und seine Dialogkunst auszuüben. Deshalb sollte Europa ein Partnerschaftsprogramm vorschlagen und dieser Region in ihrer Rebellion seine Hilfe anbieten.“

Zunächst sollte die EU „neue Spielregeln ankündigen, bevor ein neues Massaker beginnt“, empfiehlt in El País Jordi Vaquer, der Leiter der Stiftung CIDOB, ein Think-Tank über internationale Beziehungen. Die EU sollte reagieren, indem sie „beim geringsten Verdacht auf systematische Anwendung von Gewalt“ gegen die Bevölkerung sofort alle Abkommen sowie „die Bankkonten aller Inhaber wichtiger Ämter“ in diesen Regimes einfriert, sowie „alle Botschafter zur Konsultation zurückbeordert, die Lieferungen von jeglichem Material, das für die Repression eingesetzt werden kann, unterbricht oder Gerichtsverfahren gegen alle diejenigen, die Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben, unterstützt“.

Die „Schizophrenie der Rue Froissart“

Leider, so bemerkt Jordi Vaquer weiter, „lässt jede Krise die EU-Länder zögern“, denn „genau wie Libyen für Italien zu wichtig ist, ist es Marokko für Spanien, Algerien für Frankreich, Oman für Großbritannien, oder Jordanien für die mit Israel befreundeten Staaten wie Deutschland“. Dabei, so versichert der Leiter der Denkfabrik, „kann nur eine im Voraus vereinbarte Position, die automatisch gegenüber jeder beliebigen, in eine Spirale brutaler Repression eintretende Regierung aktiviert wird, Europa aus seiner beschämenden Ohnmacht befreien“.

Dazu müssten die Staaten allerdings ihre Widersprüche akzeptieren, oder über sie hinauswachsen. Im Fall Libyen ist Italien der Hauptverantwortliche. „In Europa nennt man das die Schizophrenie der Rue Froissart“, erzählt La Repubblica. Die römische Tageszeitung erklärt, wie die italienischen Vertreter zu Beginn des Europäischen Rates wohlwollende Erklärungen zugunsten der angeklagten Diktatoren verlesen. Und dann, im Rat selbst, mit allen anderen zusammen die Beschlüsse zu ihrer Verurteilung verabschieden. So war es bei Mubarak und Lukaschenko und so ist es jetzt bei Gaddafi. Italien musste die Verurteilung der Repression in Libyen unterzeichnen, widersetzt sich aber den von Finnland vorgeschlagenen Sanktionen gegen Tripolis.

Dennoch ist, wie La Stampa erinnert, „die Beziehung zu Gaddafi nicht nur Berlusconi zuzuschreiben. Libyen ist ein Handelspartner, den alle italienischen Regierungen schon immer umsorgt haben. Wir haben in Libyen Männer und Geld, wir sind abhängig von Libyen in Bezug auf Energie, Handel und Investitionen. Gaddafis Niedergang könnte sehr wohl auch für uns den Sturz eines Systems bedeuten.“ (pl-m)

Waffenhandel

Die guten Geschäfte de Westmächte

„Was für ein tristes Paradox“, schreibt die Gazeta Wyborcza: „Einerseits weinen die Westmächte um die Opfer, aber andererseits liefern sie die Waffen, mit denen die arabische Bevölkerung niedergemetzelt wird.“ Die polnische Tageszeitung erinnert daran, dass die weltweit – und zum Teil von den arabischen, Aufstandsbewegungen niederschlagenden Regimes – verwendeten Waffen zu 31 Prozent aus Russland, dem weltweit führenden Exportland stammen, gefolgt von den Vereinigten Staaten (30 Prozent), Frankreich (9 Prozent), Deutschland (6 Prozent), Großbritannien (4 Prozent) und der Ukraine (2 Prozent). Waffen machen fünf Prozent der französischen und britischen Exporte aus, wobei beiden Ländern vorgeworfen wurde, Repressionsmaterial an Tunesien und Bahrein geliefert zu haben.

„Seit dem 11. Oktober 2004, als das europäische Ausfuhrverbot für Waffen nach Libyen aufgehoben wurde, fehlt es dem Regime Gaddafis nicht an Zulieferern: Großbritannien, Frankreich, Spanien, Österreich und Schweiz. Nicht zu vergessen die Länder, mit denen eine militärische Kooperation zustande kam: Spanien, Frankreich, Großbritannien, USA, Italien und Griechenland“, schreibt der belgische Soir. In Belgien wird die Region Wallonien, 100-prozentige Aktionärin des Waffenhändlers FN Herstal, verdächtigt, Gewehre, Maschinengewehre und Granaten an Libyen verkauft zu haben. Zu ihrer Verteidigung ließ die Regionalregierung wissen, dass die besagten Waffen „ausdrücklich“ für eine Mission zum Schutz humanitärer Konvois nach Darfur bestimmt waren.

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