Libyens Kampf, Europas Schmach

Wie können sich die Europäer angesichts der Massaker des Gaddafi-Regimes mit Rufen nach Mäßigung zufriedengeben und sich vor einer Flüchtlingswelle fürchten? Die Tageszeitung El País empört sich.

Veröffentlicht am 23 Februar 2011 um 15:59

Unser heutiges Europa ist nicht das, was die fortschreitende Revolution in den Ländern des Maghreb und des Nahen Ostens braucht. Stillschweigend und untätig hat es die Demonstrationen hingenommen, die zum Sturz der Diktaturen Ben Alis und Mubaraks führten. Nun reagiert es nur zögerlich auf die Massaker des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Wenn ein Tyrann seine Panzer und Flugzeuge auf seine Bürger hetzt, weil diese seinen Rücktritt fordern, und wenn Hunderte von ihnen sterben müssen, dann ist es ganz einfach beschämend, von Gewaltbegrenzung zu sprechen.

Gaddafi ist kein Anfänger. Die Verbrechen der letzten Tage sind sicherlich die schamlosesten, die er je begangen hat. Und da verwendet Europa mehr Sorge darauf, wie es die libysche Bevölkerung innerhalb ihrer Grenzen halten kann, anstatt sie zu unterstützen, wo sie ihr Leben riskiert um eine alte Tyrannei zu bekämpfen.

Europas obsessionelle Angst vor Einwanderung

Es reicht nicht, diesem Ausbruch an Barbarei mit einer vorsichtig geschriebenen Stellungnahme der Hohen Vertreterin für Außenpolitik [Catherine Ashton] zu begegnen. Auch die Vorsicht des EU-Ministerrates vom vergangenen Montag kann nicht zufriedenstellen. Täuschen wir uns nicht: Wenn zwei Länder wie Italien und die Tschechische Republik die gemeinsame Position durcheinanderbringen konnten [indem sie eine Verurteilung Libyens ablehnten], dann rührt das unter anderem daher, dass der Rest der 27 Länder nichts an der endgültigen Position auszusetzen hatte und sie für annehmbar hielt. Nun ist sie das aber nicht, egal von welchem Standpunkt aus man sie betrachtet, und selbst nicht im Lichte eines zaghaften Pragmatismus. Der Sieg der beiden EU-Mitglieder über die anderen ist deshalb in Wahrheit eine jämmerliche Niederlage für alle.

Während die Hohe Vertreterin und der Ministerrat ihre traurige Stellungnahme veröffentlichten, vollendete die Kommission Europas Schmach: Michele Cercone, Sprecher der EU-Innenkommissarin [Cecilia Malmström], teilte mit, wie sehr sich die Europäische Union um die Konsequenzen von Auswanderungswellen aus den Maghreb- und Nahost-Staaten sorgte. Wenn das wirklich die einzige Sorge der EU in einem solchen Moment ist, dann zeigt das vor allem, dass Brüssel so sehr mit der eigenen Nabelschau beschäftigt ist, dass es keinen Sinn mehr für Hierarchien hat. Es stellt ein politisches Erdbeben in einer der gepeinigtesten Regionen der Welt auf dieselbe Stufe mit der Besessenheit – zunächst der europäischen Populisten, dann aller demokratischen Parteien – denen jedes Mittel recht ist, solange es dem Stimmenfang dient.

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Leere Phrasen, während Gaddafi seine Söldner anheuert

Das bedeutet aber auch, dass dieses Europa des beginnenden 21. Jahrhunderts, geblendet von seinen Wahnvorstellungen, nicht mehr zwischen einem Einwanderer und einem Flüchtling unterscheidet. Wenn sich Europa angesichts eines so großen Verbrechens wie Gaddafis nur fragt, wie man die Libyer am besten innerhalb ihrer Grenzen halten kann, und sie damit der Willkür einer grausamen Repression aussetzt, macht sich Europa einer unverzeihlichen Schande schuldig. Im Gegenteil, es sollte sich fragen, wie es beim Sturz eines solch grotesken Regimes und der Rettung von Menschenleben helfen könnte.

In den offiziellen Erklärungen steht nichts von alldem. Und das ist umso schlimmer, als die 27 EU-Länder weiter an ihrer gemeinsamen Position festhalten und hartnäckig leere Phrasen dreschen, während Gaddafi Söldner anheuert, um die Demonstrationen zu zerschlagen, und das Klima von Angst und Schrecken verschärft, indem er den Abtransport der Leichen verhindert, die überall auf den Straßen herumliegen.

Wir können hier nicht halblaute Aussagen machen

Es lohnt nicht, all die Fehler zu zählen, welche die Großmächte im Lauf der Geschichte in den Maghreb- und Nahost-Ländern begangen haben, in ihrem Glauben, die Diktatur sei ein geringeres Übel als die Bedrohung durch islamistischen Fanatismus. Dabei handelt es sich in Wirklichkeit um zwei Feinde, die sich gegenseitig genährt haben: Von einem Ende der arabischen Welt bis zum anderen haben sie Millionen Menschen in eine freiheitsraubende Falle gelockt, die ihnen sämtliche Hoffnung auf Fortschritt nahm. Jetzt, wo die Bürger unter Einsatz ihres Lebens das Wort ergreifen, können die Großmächte nicht noch einen neuen Fehler von weltweiten Ausmaßen machen.

Zumindest kann und darf Europa das nicht tun, denn damit würde es jene großen Prinzipien, auf die es seine Union bauen wollte, endgültig verraten. Die Bürger, die sich auf der Suche nach Freiheit und Würde gegen ihre Diktaturen aufgelehnt haben, müssen nun vom Ausland, von der demokratischen Welt, klar und deutlich gesagt bekommen, dass ihre Forderung legitim ist. Und die Europäische Union kann es sich nicht erlauben, halblaute Aussagen zu machen, oder ihre schäbigen Ängste als Rechtfertigung vorzuschieben. (jh)

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