Der Bundestag, Berlin. Foto: Wolfgang Staudt

Deutschlands Streben nach Europamacht

Am 14. Juli nehmen die neugewählten Europaabgeordneten ihre Arbeit auf mit dem Ziel, ihren Einfluss auf die EU-relevanten Entscheidungen zu vergrössern. Doch nach Ansicht von Wolfgang Münchau stellt die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ihre Legitimität in Frage und wird die zukünftige Entwicklung der EU in ihrem Wesen verändern.

Veröffentlicht am 14 Juli 2009 um 17:01
Der Bundestag, Berlin. Foto: Wolfgang Staudt

In Brüssel wurde diesen Monat erleichtert aufgeatmet, als das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVG) den Vertrag von Lissabon für zulässig erklärte. Nun kann Deutschland den Vertrag bis Ende des Jahres ratifizieren. Doch wenn man das 147 Seiten starke Urteil genauer betrachtet, stellt man fest, dass das Gericht mit seinem Bescheid der zukünftigen Europäischen Integration entgegenarbeitet. Zum Beispiel erklärt es eine hypothetische Harmonisierung der Steuerpolitik oder die Aufstellung eines gemeinsamen EU-Militärkommandos für verfassungswidrig.

Das Urteil ist nicht nur für Deutschlands zukünftige Einstellung zur weiteren Europäischen Integration relevant, sondern es beinhaltet auch wichtige Konsequenzen für alle, die sich ihre Meinung zum Vertrag von Lissabon noch nicht gebildet haben. Die irischen Wähler zum Beispiel, die im Oktober eine zweite Volksbefragung über den Vertrag abhalten, sollten sich den Entscheid ruhig näher ansehen. Wer beim Referendum mit "Ja" stimmt, muss dies in dem Wissen tun, dass es aufgrund dieses Urteils auf sehr lange Zeit hin keinen neuen Vertrag geben wird. Dies könnte sehr wohl der letzte Versuch unserer Generation sein.

Ich möchte mich hier auf drei Aspekte des Urteils konzentrieren, im Hinblick auf die Gewaltentrennung zwischen den Mitgliedsstaaten und der EU. Zunächst einmal nimmt das BVG eine klare Haltung zur Souveränität ein. Die letzte Instanz muss immer bei einer einzigen Stelle liegen – und das ist vorerst der Mitgliedsstaat. Wollte man der EU Souveränität übertragen, müsste man erst seine nationale Verfassung ausrangieren und statt dessen eine europäische Version annehmen. Da dies nicht geschehen wird, hat das Gericht de facto beschlossen, dass jegliche Souveränität in der EU national sein muss. Macht kann geteilt werden, Souveränität nicht.

Zweitens erkennt das BVG das Europäische Parlament nicht als echte Legislative an, die den Willen eines einzigen europäischen Volkes vertritt, sondern sieht es als repräsentatives Gremium der Mitgliedsstaaten. Das EU-Parlament verhält sich nicht wie ein echtes Parlament, lautet das Urteil. Es gibt keine formale Opposition und auch keine Gruppierung, die eine Regierung unterstützt. Während der Vertrag von Lissabon zwar die Machtbefugnisse des EU-Parlaments verstärkt, behebt er jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht sein endgültiges Manko, nämlich dass das Parlament keine effektive Kontrolle über die Exekutive der EU darstellt.

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Dritter und wichtigster Punkt: Das Gericht hat sich eindeutig zur Frage der Europäischen Integration geäußert. Wo endet sie? Die Antwortet lautet: Hier und jetzt. Das BVG hat geurteilt, dass die Mitgliedsstaaten in folgenden Bereichen souverän bleiben müssen: Kriminalrecht, Polizei, Militäroperationen, Steuerpolitik, Sozialpolitik, Erziehung, Kultur, Medien und Beziehungen zu religiösen Gruppen. In anderen Worten, die Europäische Integration endet mit dem Vertrag von Lissabon. Ein anderer, zukünftiger europäischer Vertrag, der sowohl gehaltvoll als auch diesem Urteil konform wäre, ist kaum vorstellbar.

Die Erwähnung der Steuerpolitik in der Liste der Bereiche, die den Mitgliedsstaaten vorbehalten bleiben sollen, ist besonders interessant im Hinblick auf die Debatte über mögliche Reaktionen auf die Wirtschaftskrise. Ich habe durchaus Verständnis für die Auffassung des Gerichts, dass eine makroökonomische Politik in einer stabilen, entscheidungskräftigen Struktur fundiert sein muss. Doch das BVG ist zum falschen Schluss gelangt, indem es die Verantwortung für das Steuerrecht als eine rein nationale sieht.

Ein Beschluss, der effektives wirtschaftliches Krisenmanagement in einer Währungsunion ausschließt, indem er alle relevanten politischen Entscheidungen auf die nationale Ebene beschränkt, ist mit einer zukunftsfähigen Einheitswährung unvereinbar. Ich würde nicht vorhersagen wollen, was im tatsächlichen Konfliktfall passieren könnte.

Das BVG spiegelt hier die derzeit in Berlin vorherrschende politische Stimmung wider, die an die nationalistische Ära nach Bismarck erinnert. Zuallermindest sollten sich jedoch alle, die mit Deutschland in einer Währungsunion liiert sind, große Sorgen machen.

DEBATTE

Verdient das deutsche Parlament Europamacht ?

Beflügelt vom Beschluss des Verfassungsgerichts für mehr Rechte des Bundestags und Bundesrates, fordert die CSU nun deutlich mehr Mitspracherecht in Brüssel. Der CSU-Parteivorsitzende Horst Seehofer verlangt, dass Bundesrat und Bundestag zu jeder Entscheidung in Brüssel das Recht auf Stellungsnahme erhalten müssen. Das soll im Begleitgesetz zum Lissbon-Vertrag verankert werden. Ein Vorschlag, der in Österreich bereits seit 1995 umgesetzt wird, die CSU jedoch spaltet: "Eine zu starke nationale Beteiligung ist Unfug und lähmt den Entscheidungsprozess in Brüssel", meint der Vorsitzende der CSU-Europagruppe Markus Ferber. "Eine stärkere parlamentarische Kontrolle bei EU-Entscheidungen ist ein Muss", hält Seehofer dagegen. Unterstützung erfährt er bis jetzt von der linken Fraktion im Bundestag, die ebenfalls ein Maximum an Mitbestimmungsmöglichkeiten fordert. Das Machtwort in der Frage wird Bundeskanzlerin Merkel am 14. Juli sprechen.

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