"150 Jahre italienische Einheit." "Und wir warten immer noch auf das Dekret."

150 Jahre in den Knochen

Mit seinen 150 Jahren straft Italien die Geschichten, die wir der Welt über Europa erzählen, Lügen, schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash. Er blickt auf das „bel paese“ und ist nicht mehr so beeindruckt.

Veröffentlicht am 16 März 2011 um 13:36
"150 Jahre italienische Einheit." "Und wir warten immer noch auf das Dekret."

Papst Pius II., auf den der moderne Diskurs über „Europa“ zurückgeht, schrieb im 15. Jahrhundert einen berühmten Brief an Sultan Mehmed II., den Eroberer Konstantinopels, und pries darin die mannigfaltigen Stärken des alten Kontinents: „Spanien so standhaft, Frankreich so kriegerisch, Deutschland so volkreich, Großbritannien so stark, Polen so wagemutig, Ungarn so aktiv und Italien so reich, so begeistert und so erfahren in der Kunst des Krieges.“

Heute wie damals ist Europa unvorstellbar ohne seine Nationen. Europa allein unter dem Gesichtspunkt der Europäischen Union und ihrer Institutionen in Brüssel zu betrachten, das wäre als wolle man ein schönes altes Haus beschreiben, indem man die Gebrauchsanleitung für seine Rohrleitungen, seine Elektroinstallation und seine Zentralheizung vorliest. Europa ist mit Sicherheit weit mehr als nur die Summe seiner Nationen – doch ohne sie ist es überhaupt nichts.

Sehen wir doch einmal die eigene Nation von Pius II. an: Italien, das nächsten Donnerstag den 150. Jahrestag seit seiner vermeintlichen Vereinigung zum modernen Nationalstaat feiert – das Königreich Italien wurde am 17. März 1861 ausgerufen. Italien ist das Ur-Land Europas. Nirgendwo sonst findet man so viele dicht aufgehäufte Schichten europäischer Geschichte. Nur in Rom kann man neben dem Ermordungsort von Julius Cäsar zu Mittag essen und dann hinüberlaufen und dem Erben des Heiligen Petrus dabei zuhören, wie er seine 2000 Jahre alte Botschaft an die Stadt und die Welt verkündet. Vieles von dem, was die traditionelle, frühmoderne Identität Europas ausmachte – insbesondere das Erbe aus dem antiken Griechenland und das Christentum – wurde uns von den Alten Römern überliefert. Europa: von Julius Cäsar bis Silvio Berlusconi.

Hier sind die acht Dinge, die das Italien von heute meiner Meinung nach über das Europa von heute aussagen kann.

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1. Ob Italien oder Europa, keines von beiden weiß, welche Geschichte es eigentlich schildern will. Eine 150-Jahr-Feier der „italienischen Einheit“, an der ich kürzlich in der italienischen Botschaft in London teilnahm, war fast ausschließlich zwei eng verwandten Themen gewidmet: den Frauen und der Liebe. Der Abend war ein Genuss, Greta Scacchi las ein paar erhebende Verse aus Dantes Göttlicher Komödie (Amor, ch’a nullo amato amar perdona) und ein Tenor sang neapolitanische Liebeslieder, bis er kurz vor dem Auseinanderbersten stand. Doch es war für ein modernes europäisches Land eine etwas seltsame Art, sich seinen Freunden darzustellen. Und was die EU betrifft – von der bekommen wir noch nicht einmal die Lieder.

2. Statt einer Geschichte präsentiert Europa einen Lebensstil. Italien ist das wunderbarste Beispiel für diesen Lebensstil – Essen, Wein, Mode, Sonne, „soziale“ Arbeitszeiten und lange Ferien, Bella Figura, Dolce Vita und dergleichen. Das Problem ist nur, dass diesen Lebensstil nur eine schwindende Anzahl von Italienern und Europäern genießen. Er ist unhaltbar ohne eine radikale Reform der Wirtschaft und des Wohlfahrtsstaats, und ohne die erfolgreiche liberale Integration von Männern und Frauen mit Migrationshintergrund, viele von ihnen Muslime. (Pius II. dreht sich wahrscheinlich im Grab um.)

3. Die meisten Europäer, und viele Nichteuropäer, wissen wahrscheinlich mehr über Berlusconi als über jeden anderen europäischen Politiker. Er ist das, was am ehesten einer paneuropäischen politischen Persönlichkeit entspricht. Leider ist das, was jeder über ihn weiß, zum Großteil grotesk, anzüglich oder unangenehm – gelinde gesagt. Also wird uns statt einem ordentlichen Schauspiel der europäischen Politik als Teil einer gut funktionierenden europäischen Öffentlichkeit diese geschmacklose Operette serviert.

4. Der Berlusconismus ist kein Faschismus, aber er ist auch noch lange kein ideales Vorbild für eine funktionsfähige sozialliberale Demokratie, von der die Europäer regelmäßig behaupten, sie sei so typisch für Europa.

Italien steht hier bei weitem nicht alleine. Das Ungarn von Viktor Orban – um ein anderes, von Pius II. erwähntes Land aus dem alten Europa zu nennen – folgt ihm dicht auf den Fersen. Würde man die schlimmsten Eigenschaften der 27 verschiedenen EU-Mitgliedsstaaten in einem einzigen imaginären Land zusammenfassen, dann wäre es dort ziemlich scheußlich.

5. Der Zeitpunkt, an dem die europäischen Länder das beste liberaldemokratische, rechtstreue Verhalten vorweisen müssen, ist während der ein oder zwei Jahre vor ihrem Beitritt zur EU. Ist man erst einmal drin, kann man sich alles erlauben. Wenn Berlusconis Italien heute der EU beitreten wollte, dann würde es vielleicht gar nicht aufgenommen.

6. Man darf nie die amtierende Regierung eines Landes mit dem Land, das sie zu regieren behauptet, verwechseln. Alle europäischen Länder beinhalten unterschiedliche Elemente und Italien ist verschiedenartiger als alle anderen. Weite Bereiche des italienischen Lebens – darunter auch viele, die von Berlusconi-Anhängern verwaltet werden – sind modern, effizient, zivilisiert und bewunderungswürdig. Das Land, das uns Kaiser Silvio gegeben hat, gibt uns auch die derzeit glaubwürdigsten Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Europäischen Zentralbank. Damit meine ich natürlich Mario Draghi, den Gouverneur der italienischen Notenbank.

7. Wir dürfen dauerhafte, historische Nationen nicht mit gefestigten, geeinten Nationalstaaten verwechseln. In The Pursuit of Italy, einem Buch, das zeitgleich mit dem Jubiläum veröffentlicht wird, meint David Gilmour, Italien habe 150 Jahre damit zugebracht, eben kein effizienter, geeinter Nationalstaat zu werden. Er erinnert uns daran, dass die Anhänger von Umberto Bossis Lega Nord hier sticheln würden, dass „Garibaldi nicht Italien vereint, sondern Afrika gespalten [hat]“. Wenn eine politische Schwächung Berlusconis nun die Stärkung Bossis bedeutet, dann verheißt das kaum Gutes für ein besser integriertes Italien.

Es geht da auch um einen weiteren, europäischen Zusammenhang: Gerade die Integration der Europäischen Union ermöglicht die maßlose nationale Desintegration. Man braucht ja nur nach Belgien zu schauen – jetzt schon seit 270 Tagen ohne Regierung.

8. Und wenn wir schon von Afrika sprechen: Es wäre zu erhoffen gewesen, dass Italien, eine der europäischen Großmächte im Mittelmeerraum, zusammen mit Frankreich und Spanien bei der Ausarbeitung einer unerschrockenen, ideenreichen Reaktion auf den arabischen Frühling richtungsweisend gewesen wäre. Doch statt dessen sehen wir Bilder von Berlusconi, der Gaddafi umarmt, die vom italienischen Staat kontrollierte Energiefirma ENI lässt anscheinend einen Teil des öl- und gasbedingten Einkommens des libyschen Diktators weiterlaufen, und es herrscht Panik wegen tunesischer Flüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa. Wieder einmal ist Italien nur eine Extremversion der europäischen Verwirrtheit. Das können wir uns nicht länger leisten.

Also alles Gute zum 150. Jahrestag, (un)geeintes Italien. Wir lieben euch. Wir sprechen euch unsere Anteilnahme aus, besonders unter eurer aktuellen Führung. Und wir brauchen euch dringend wieder unter den Vorreitern des großen alten und modernen Projekts, das wir Europa nennen. Schließlich habt ihr es erfunden.

Aus dem Englischen von Patricia Lux-Martel

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