Bilder aus dem Kernkraftwerk in Fukushima, die der japanische Sender NHK am 16 März 2011 ausstrahlte.

Unwissend, von Tschernobyl bis Fukushima

1986 waren die Esten sowjetische Staatsbürger und wussten nichts von dem, was sich in Tschernobyl abspielte. Heute sind sie Bürger der Europäischen Union. Das heißt aber nicht, dass sie deshalb besser informiert sind, meint die Tageszeitung Postimees.

Veröffentlicht am 17 März 2011 um 14:07
Bilder aus dem Kernkraftwerk in Fukushima, die der japanische Sender NHK am 16 März 2011 ausstrahlte.

Ein sehr gläubiger Mensch, der in meiner Geburtsstadt lebte, erzählte oft von der Tschernobyl-Katastrophe 1986. Dabei handelte es sich um eine ganz spezielle Sichtweise: Ein ganz gewöhnlicher Tag, an dem die Menschen (wie die Mehrheit der Leute auf sowjetischem Boden) wie gewöhnlich in langen Schlangen vor den Geschäften standen, gelassen ihren Alltag lebten und die Nachrichtensender kein einziges Wort über das verloren, was sich in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik abspielte. Die Hand Gottes im Himmel weise nach Süden [und lenke die Wolken in diese Richtung].

Heute nehmen wir die Naturkatastrophen in Japan und ihre Folgen in einem ganz anderen Umfeld wahr, weil wir Teil eines globalen medialen Raumes sind. Wir tragen zu diesem Raum bei und verschlingen gierig jede Nachricht, die wir finden können. Sind wir deshalb aber wirklich besser informiert als zur Zeit der Sowjetunion, als wir "glücklich“ unwissend waren.

Anstatt fehlender Informationen sind wir einer Überfülle dieser ausgesetzt. Übers Internet machen sich zehntausende Meinungsführer, Experten und Kommentatoren über unsere Bildschirme her. Wem zuhören und glauben? Gewiss war es damals eine einzige politische Partei, die es als notwendig erachtete, Schweigen zu bewahren. Jedoch steht in diesem Durcheinander an Informationen heutzutage für so manche viel auf dem Spiel.

Obwohl viele Länder Japan ihre Hilfe angeboten haben, bleibt die Welt des Wettbewerbs doch unglaublich zynisch. Während Japan gewaltige Ausgaben bevorstehen und es hohe Summen zur Aufrechterhaltung seiner Wirtschaft zahlen muss, rechnen sich die „nervösen Märkte“ und die Spekulanten aus, wie viele Millionen mehr sie auf ihre Konten schaufeln können. Außerdem wurde die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von Libyen abgelenkt. Man kümmert sich nicht mehr darum, ob es sich um hunderte oder tausende Opfer handelt, die Diktator al-Gaddafi tötet, um seine Macht zu halten.

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In dieser Situation sollten die Medien als Zufluchtsort fungieren. Stattdessen lassen sie sich von der allgemeinen Strömung mitreißen. Statt Qualität bieten sie Quantität, die ein jeder ganz leicht für seine eigenen Interessen nutzen kann. Die Europäische Union mit ihrer offenen Gesellschaft und ihren einflussreichen Beziehungen kündigt an, dass sie vorhabe, ihre Atomkraftwerke zu testen. In Helsinki demonstrieren die Grünen. Aber niemand kümmert sich wirklich um die Reaktoren in Russland, von denen sich der nächstgelegenste in Sosnowy Bor befindet [zwischen Sankt Petersburg und der russisch-estnischen Grenze]: Ganz in unserer Nähe.

Man kann also sagen, dass die Hand Gottes 25 Jahre nach Tschernobyl noch immer da ist. Mit folgendem Unterschied: Heute nehmen wir all diese Ereignisse nicht unter blauem Himmel wahr, sondern vor unseren Flachbildschirmen. Zunehmende Kontakte bedeuten auch immer mehr Angst und Panik. In Finnland scheint man sogar schon riesige Vorräte an Jodtabletten anzulegen.

Litauen- Weißrussland

Beängstigendes Kraftwerk-Projekt

"Wilna wird die gefährlichste Hauptstadt der Erde sein“, ängstigt sich Lietuvos rytas. Das litauische Tagesblatt sorgt sich um folgendes schweigenumhülltes, weißrussisches Regierungsprojekt: Der Bau eines Atomkraftwerkes, 50 Kilometer von der litauischen Hauptstadt entfernt. "Wilna wirft Minsk vor, nicht auf alle seine Befürchtungen in Sachen Umwelt eingegangen zu sein“, berichtet die Tageszeitung. Die Studie zu den Auswirkungen für die Umwelt sei noch nicht abgeschlossen und Wilna habe man nicht befragt. Dabei ist die Sicherheit der 600.000 Bewohner ein wunder Punkt. Schließlich gehöre die Stadt der Zone an, die im Falle eines Unfalls evakuiert werden müsste. "Es muss vor dem Bau geklärt werden, wohin die Bewohner flüchten müssen, wenn Strahlung austreten sollte“, meint Lietuvos rytas. Nach Berichten des Tagesblattes ist der russische Regierungschef Wladimir Putin am 15. März nach Minsk gereist, um den Bau des neuen Kraftwerkes mit den Behörden vor Ort zu besprechen.

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